Wer hat welche Chancen auf einen Studienplatz? Und welche Kriterien spielen dabei eine Rolle? In den USA galt seit den 1960er Jahren: Zu diesen Kriterien darf auch race gehören. Hochschulen können bei ihren Vergabeverfahren gezielt People of Color fördern. Mit der sogenannten Affirmative Action-Politik sollte deren Anteil unter den Studierenden erhöht werden – und die vielen Jahrzehnte rassistischer Diskriminierung ausgeglichen werden, die Universitäten genauso betraf wie alle anderen Bereiche gesellschaftlicher Teilhabe.

Der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson begründete das in einer Rede im Jahr 1965 so: „Man kann nicht einen jahrelang angeketteten Menschen befreien, ihn an die Startlinie eines Rennens bringen, ihm sagen ‚Du bist frei, mit allen anderen zu konkurrieren‘, und dann immer noch glauben, dass man vollkommen fair war.“

Damit ist es nun vorbei. Am Donnerstag entschied der Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten: Die Zulassungspraxis der Harvard University und der University of North Carolina (UNC), die beide das Prinzip der Affirmative Action anwenden, verletze den vierzehnten Verfassungszusatz, der allen US-Amerikanern Gleichheit vor dem Gesetz zusichert. Damit schafft das Gericht einen Präzedenzfall von historischer Dimension, dürften doch ab sofort Hochschulen im ganzen Land an diese Entscheidung gebunden sein, nicht nur Harvard und die UNC.

In der Begründung schreibt der Vorsitzende Richter John Roberts, das Gericht habe in früheren Verfahren nur unter engen Auflagen zugestimmt, dass Hochschulen ihre Studienplätze auch nach Hautfarbe vergeben dürften. Deren Standards „müssen strengen Prüfungen standhalten, sie dürfen niemals race als Stereotyp oder Negativkriterium verwenden“, argumentiert Roberts. Und: „An irgendeinem Punkt müssen sie ein Ende haben“. Diesen Punkt sehen die Richter nun erreicht. Die Zulassungsverfahren von Harvard und der UNC, „seien sie noch so gut gemeint und in dem Glauben angewandt, Gutes zu tun“, erfüllten keines dieser Kriterien. Stattdessen bedienten sie rassistische Vorurteile.

Harvard soll diskriminieren

Damit entspricht das Gericht dem Willen der Kläger namens Students for Fair Admissions („Studierende für faire Zulassungen“). Die Gruppierung ist der Meinung, die University of North Carolina diskriminiere weiße und asiatischstämmige Bewerber für Studienplätze, indem sie Schwarze, Latinos und Indigene bevorzuge. Die Harvard University beschuldigte sie zusätzlich, für asiatisch-amerikanische Studienbewerberinnen eine de-facto-Obergrenze eingeführt zu haben. Vor mehreren Bundesgerichten scheiterten die Klagen. Der Supreme Court aber gab ihnen statt.

Die Entscheidung setzt einen vorläufigen Punkt hinter eine Debatte, die in den vergangenen Jahren immer intensiver geführt wurde. „Affirmative Action“ wird im Deutschen oft mit „positive Diskriminierung“ übersetzt. Bestimmte Bewerberinnen und Bewerber gegenüber anderen zu bevorzugen, um Ungerechtigkeiten auszugleichen – dieser Ansatz ist umstritten, nicht nur in Bezug auf Bildungschancen und nicht nur in den USA; auch in anderen Länder gibt es vergleichbare Ansätze, um Chancengleichheit und Vielfalt im Bildungswesen zu fördern. 

Die Entscheidung des Supreme Courts geht in ihren Konsequenzen weit über symbolische Fragen hinaus. Die Gesellschaft der USA wird immer diverser, der Anteil von People of Color unter den High School-Absolventinnen des Landes ist so hoch wie nie und wird laut Berechnungen der Behörden in den kommenden Jahren weiter steigen. Aber an den Hochschulen spiegelt sich das noch nicht wider. Laut der Brookings Institution erwerben derzeit unter den US-Amerikanern von 25 bis 29 Jahren 45 Prozent der Weißen einen Bachelorabschluss, aber nur 28 Prozent der Schwarzen und 25 Prozent der Latinos. Unter den asiatischstämmigen US-Amerikanern sind es dagegen 68 Prozent.

Leidet die Vielfalt an den Hochschulen erst recht jetzt, da nicht mehr gezielt gefördert werden darf? Amerikas Studierende werden künftig immer weniger aussehen wie Amerika, befürchten die Befürworterinnen der Affirmative Action – gerade jene, die später in verantwortungsvolle Positionen in Regierung,
Wirtschaft oder anderen Bereichen des täglichen Lebens wechseln. Eliteuniversitäten wie Harvard gelten als Zugangs­wege nicht nur zu Wissen, sondern auch zu Macht, ihre Studienplätze sind extrem begehrt. Allein unter den Kongressabgeordneten, die 2020 gewählt wurden, waren 40 Harvard-Absolventen. Joe Biden ist der erste Präsident seit 1988, der weder einen Bachelor- noch einen Master-Abschluss an einer sogenannten Ivy League-Universität erworben hat. Und auch die Supreme Court-Richterinnen haben bis auf eine Ausnahme alle in Harvard oder Yale studiert.

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