Vier französische Staatspräsidenten hat Angela Merkel kommen und gehen sehen. Keiner war in der Lage, es mit ihrer Ausdauer und Kraft aufzunehmen. Und keiner von ihnen hatte genug Format, um das legendäre Tandem von Helmut Kohl und François Mitterrand wiederaufleben zu lassen. Unsere Staatsoberhäupter können von der Popularität und der außergewöhnlichen politischen Langlebigkeit Angela Merkels nur träumen. Schließlich ist es in Frankreich eine Art Nationalsport, Präsidenten erbarmungslos abzusägen, nachdem man sie kurz vorher noch gewählt und verehrt hat.

Viele Französinnen und Franzosen träumen von einer Angela Merkel im Élysée-Palast, obwohl wahrscheinlich selbst sie das gleiche Schicksal ereilen würde wie die anderen, wenn sie hier zur Wahl stünde. Der besondere Stil, der Angela Merkel in Deutschland zu einer viermal wiedergewählten Regierungschefin gemacht hat und weltweit zu einer Ikone, hätte in Frankreich keine Chance, auch nur die erste Runde einer Präsidentschaftswahl zu überstehen.

Wir Französinnen und Franzosen haben ein infantiles Verhältnis zur Macht. Wir brauchen Enthusiasmus, Lyrik, Pomp und große Worte. Wir wollen Versprechungen, denen wir nur zu gern glauben. Mit ihrer Schlichtheit, ihrer nordischen Kühle und ihrer protestantischen Moral fasziniert Angela Merkel uns, gerade weil sie ganz anders ist als wir. Dieser Stil, diese Ruhe – wie ein Felsen. Diese langweiligen Reden, die dennoch unvergleichlich sind. Diese unerschütterliche Gleichgültigkeit gegenüber den Attributen der Macht. Diese außergewöhnliche moralische Stärke.

Sie nahm die Krisen, wie sie kamen

Um ihren Beitrag zum deutsch-französischen Tandem zu leisten, musste Angela Merkel erst einen Nachteil überwinden: Weil sie im Osten aufgewachsen war, verfügte sie nicht über die rheinische Frohnatur ihrer Vorgänger und die damit einhergehende offensichtliche Vertrautheit mit Frankreich. Sie kam 2005, nach der Erweiterung der Europäischen Union 2004, an die Macht und hegte keinerlei sentimentale Gefühle für die Sechs-Länder-Gemeinschaft der Gründerstaaten. Merkel hat ihre europäische Identität vielmehr auf Krisen aufgebaut, und zwar jedes Mal gemeinsam mit einem französischen Präsidenten: die Krise des Europäischen Verfassungsvertrags mit Jacques Chirac, die globale Finanzkrise mit Nicolas Sarkozy, die Eurokrise, die russische Invasion in der Ukraine und die Flüchtlingskrise mit François Hollande, die Corona-Pandemie mit Emmanuel Macron.

Auf der französischen Seite des Rheins lautet die häufigste Kritik an Angela Merkel, dass sie 16 Jahre lang regiert, aber nicht wie ihre Vorgänger Geschichte geschrieben habe. Konrad Adenauer integrierte Westdeutschland in die internationale Gemeinschaft und half bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Helmut Kohl setzte die deutsche Wiedervereinigung und die europäische Einheitswährung durch. Gerhard Schröder führte die so brutale wie unpopuläre Agenda 2010 ein, um Deutschlands globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Ähnlich grundlegende Reformen sucht man in Merkels Amtszeit vergebens.

Aber man kann sich weder den Zeitpunkt seiner Geburt noch die Herausforderungen seiner Zeit aussuchen. Als Angela Merkel ins Amt kam, hatte das 21. Jahrhundert gerade begonnen. Auf die Anschläge des 11. September folgte eine nahezu ununterbrochene Serie von europäischen und globalen Krisen. Und Merkel ist eher Managerin als Visionärin. Reformen liegen sicher nicht in ihrer DNA, aber sie waren auch nicht das, was ihre Zeit von ihr verlangte. In gewisser Weise hatte sie also Glück: Der Lauf der Geschichte ließ ihr keine andere Wahl, als die Krisen zu nehmen, wie sie kamen. Und das tat sie.

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