Der Weg ist nie weit. Wer in Paris das nächste „Restaurant des Herzens“ sucht, muss nur einen der allgegenwärtigen Obdachlosen fragen. „Das Essen ist ok, nicht großartig, aber auch nicht schlecht“, sagt Hervé, der bärtige Mann mit Schlafsack und Rucksack, der seit ein paar Wochen den Hinterhofeingang des Konzertsaals Bataclan in unserer Pariser Nachbarschaft bewohnt.

Hervé hat schon mittags vier leere Bierdosen vor seinem Straßenlager aufgereiht, aber dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Augen leuchten: „Kennst du Coluche?“, fragt er. „Der Mann würde im Boden versinken, wenn er heute noch lebte“. Hervé schaut in den Himmel, als hätte er dort nicht den lieben Gott, sondern Coluche persönlich entdeckt. Er lächelt verträumt.

Man muss ihn kennen, diesen Coluche. Die „Restaurants du Coeur“ sind nämlich nicht irgendwelche Tafeln, sondern seine Idee, die des 1986 verstorbenen Komikers und Schauspielers Michel Colucci, genannt Coluche. Bis heute weiß das fast jeder Franzose.

„Die ‚Restaurants des Herzens‘, das bedeutet Brüderlichkeit, das war die Idee von Coluche“, sagt Hervé. Sein Gesicht ist rot, vor dem Kopfkissen seines Schlaflagers liegt Erbrochenes. „Hast du noch mal 50 Cent, dann reicht es für den Einkauf?“ fragt er zwischendurch. Hervé weiß, wovon er redet. Seit Jahren besucht er die Gratis-Essensausgaben in Paris. Schon zweimal luden ihn Freiwillige der „Restaurants des Herzens“ zum jährlichen Benefizkonzert ihres Vereins in das Pariser Zénith ein, wo in der französischen Hauptstadt die ganz großen Konzerte stattfinden. „Es war fantastisch“, erinnert sich Hervé.

Es ist gar nicht so einfach, Hervé zu verstehen. Nicht nur, weil er getrunken hat, sondern weil die „Restaurants des Herzens“ seit ihrer Gründung im Jahr 1985 längst ein riesiger Massenbetrieb geworden sind. Ihr Verein brüstet sich damit, landesweit 2000 Lokale zu unterhalten, in der 72.000 Freiwillige tätig sind. Nach eigenen Angaben will die Organisation allein im Jahr 2018 133 Millionen Essen an 900.000 Bedürftige verteilt haben, mit nur hundert Festangestellten. „Logistik ist unsere Stärke“, sagt Sophie Ladegaillerie, eine 36-jährige Pariser Art-Direktorin, die heute im Aufsichtsrat des Vereins sitzt. Dass es bei einem so großen Unternehmen nicht immer nur brüderlich zugeht, lässt sich jeden Abend in Paris besichtigen.

„Im Senegal schmeckt es, hier nicht“

Freitagsabends um 20 Uhr organisieren normalerweise zwölf Freiwillige die Essensausgabe vor dem Pariser Ostbahnhof. Doch in diesem Dezember wird in Paris gestreikt, viele Bahnen und Busse fahren nicht, nur sieben Helfer haben sich angemeldet. Der Verein lancierte deshalb einen Hilferuf an Unternehmen, die an ihn spenden. Prompt stehen sechs neue Kräfte zur Verfügung von Orphelia, einer Freiwilligen, die die Essensausgabe am Gare de l’Est seit sieben Jahren leitet.

Eric Gaillard / REUTERS

Komiker Coluche (1944 – 1986): In Frankreich verehrt wie Loriot in Deutschland

Doch der Abend ist trotzdem ein Trauerspiel: Es regnet, die Neuen wissen noch nicht, was zu tun ist, und das Essen wird schnell kalt. Es gibt Couscous mit Fleischbällen am ersten Stand, Schoko-Müsli und Milch am zweiten, Gemüsesuppe am dritten, Tee und Kaffee am vierten und Trinkwasser am fünften. Vor allem aber gibt es viele lange Gesichter. Es prasselt vom Himmel auf die Plastikteller. Bis die Leute einen ergattern, müssen sie im triefenden Nass Schlange stehen, anschließend schlingen sie stehend im Regen das Essen hinunter. „Im Senegal schmeckt es, hier nicht“, sagt ein aus Westafrika stammender Gast. Die um ihm herum stehen enthalten sich jedes Kommentars.

Orphelia bemüht sich nach Kräften, rennt von einem Stand zum anderen, hat für nichts anderes Zeit, bis jeder, der noch etwas will, bedient worden ist. Aber amüsanter macht auch ihr aufopferungsvoller Einsatz den Abend nicht. Ohne ein Dach über dem Kopf im kalten Dezember-Regen an einer Pariser Bahnhofsmauer das Abendbrot einzunehmen, hat mit der „Geselligkeit“, die Sophie Ladegaillerie als Markenzeichen der „Restaurants des Herzens“ preist, wenig zu tun.

„In Frankreich ist es wichtig, dass man mit Vergnügen isst“, verteidigt Ladegaillerie dennoch das Motto ihres Vereins. Dazu gehöre, dass beim Essen eine „soziale Verbindung“ entstehe. Die Freiwilligen würden deshalb alles „mit einem Lächeln“ machen, sagt Ladegaillerie im PR-Modus. Sind das die Floskeln einer Managerin, die sich einredet, Gutes zu tun?

Propagiertes Lächeln

Michael Ponrajah, ein 28-jähriger Designer, teilt an diesem Abend am Ostbahnhof das erste Mal Essen an Obdachlose aus. Er kam nur auf Bitte seiner Firma, die der Anruf der „Restaurants des Herzens“ ereilte. Nun aber erinnert sich Michael an seinen Vater, der als Flüchtling aus Sri Lanka nach Paris kam und seine erste Zeit in der Stadt als Bettler auf der Straße verbrachte. „Ich werde wiederkommen und das öfter machen“, sagt Michael am Ende des Abends. „Ich habe die Leute lächeln gesehen.“

Das propagierte Lächeln, das trotz der Obdachlosen-Misere in Frankreich viele Franzosen mit den „Restaurants des Herzens“ in Verbindung bringen, ist wahrscheinlich der größte Werbe-Erfolg des Vereins. Er kann deshalb die Hälfte seines Umsatzes von mehr als 80 Millionen Euro aus Spenden bestreiten. Ein Drittel bekommt er aus französischen und europäischen Subventionen, ein Achtel aus Einnahmen rund um sein Benefizkonzert im Zénith.

Dass der Slogan mit dem Lächeln funktioniert, aber hat wiederum viel mit Coluche zu tun. Er war Komiker, er brachte alle zum Lachen, auf der Bühne und im Kino. Vor allem aber war er selbst lange arm und musste sich ohne festes Einkommen durchschlagen. Als er berühmt wurde, nutzte er seine Bekanntheit, um die „Restaurants des Herzens“ zu gründen. Man muss sich den Status des 1986 mit nur 41 Jahren verstorbenen Künstlers ähnlich wie bei Loriot in Deutschland vorstellen, nur war sein Witz ein ganz anderer. Coluche hatte immer etwas Anarchistisches, Herrschaftsfreies, das sich gegen jede Autorität richtete – erst recht gegen die katholische Kirche, die auch in Frankreich lange für die Armen zuständig war. Das haftet den „Restaurants des Herzens“ bis heute an. Sie sind auch ein Art Gotteshausersatz für die französischen 68er-Generation und ihre Kinder.

Nicht umsonst richtet der Clochard Hervé vor unserer Haustür seinen Blick gen Himmel, wenn er an Coluche denkt.

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