Wenn die Zeiten ernst sind, treten große Staatschefs vor die Kamera. So auch Angela Merkel. Ihr TV-Appell zur Corona-Krise erinnerte phasenweise an John F. Kennedy, meint stern-Korrespondent Axel Vornbäumen.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash war, nachdem er die Rede der Kanzlerin gehört hatte, des Lobes voll: „Eine bemerkenswerte TV-Ansprache von Angela Merkel – eine Lehre über Demokratie, Solidarität und individuelle Verantwortlichkeit, vorgetragen mit Klarheit, Stärke und wirklicher Wärme.“

DIe Kanzlerin tat ihr Merkel-Mögliches

Dem ist wenig hinzuzufügen. Wer am Mittwochabend nach der Tagesschau die 20-Minuten-Redezeit der Kanzlerin nicht damit überbrückt hat, nochmal in aller Ruhe Bier und Chips aus der Küche zu holen, weil ja noch genügend Zeit war, bevor „Die wunderbaren Jahre“ begannen, der wird auf dem Bildschirm eine Kanzlerin angetroffen haben, die ihr Merkel-Mögliches tat, ihrem Volk den Ernst der Lage klar zu machen.

PAID STERN 2020_13 Warten, dass dieser Albtraum endet – 15.25Es war – im Wortsinne – eine Regierungserklärung. Die erste ihrer Art. Nicht abgelesen vom Blatt im Parlament. Sondern mit gefasster Miene vorgetragen vom Teleprompter. Wer den Text vorher zur Hand hatte, konnte erkennen, dass er auf die Denk- und Sprechweise der Kanzlerin zugeschnitten war. Ein hoher Analyseanteil der Situation. Verzicht auf wolkige Metaphern, auf Pathos sowieso. Jegliche Verwendung martialischen Vokabulars – verpönt.

Möge sich ihre Besonnenheit auf alle übertragen

Merkel setzte auf zwei Effekte. Erstens: The medium is the message. Die Tatsache, dass sie zum ersten Mal in 15 Jahren Amtszeit überhaupt zum Mittel der direkten Fernsehansprache in Krisenzeiten griff (sonst waren das nur die traditionellen Neujahrsansprachen) soll im Volk die außergewöhnliche Situation verdeutlichen – den Ernst der Lage. Zweitens: Die Besonnenheit im Tonfall. Merkels Kalkül: Dass sich ein Teil dieser Besonnenheit auf all jene übertragen möge, die den Ernst der Lage verspätet erkannt haben.

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Kann das gelingen? Aufrüttelnde Reden sind in Kriegs- und Krisenzeiten schon öfter gehalten worden. Churchills Einigkeitsappel im Krieg gegen Hitler-Deutschland, bei dem er nichts zu „versprechen“ hatte außer „Blut, Schweiß und Tränen“. JFKs Aufforderung: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst.“ Was wird von Merkels Rede bleiben? Vielleicht der Satz: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Das ist ein gravierender Satz – um so mehr, als dass er aus dem Munde einer Kanzlerin kommt, die ansonsten eher moderate Töne anschlägt.

Dauerhype um Eigen- und Halbwahrheiten

Churchill, auch Kennedy, hatten zu ihren Zeiten bei ihren Auftritten das Volk mit seiner uneingeschränkten Aufmerksamkeit für sich allein. Das war ein unschätzbarer Vorteil. Es gab sie damals noch nicht, die sozialen Medien, in denen sich auch noch der letzte Dödel die Timeline mit dem Wissenschaftler teilen kann. Der Dauerhype um Eigen- und Halbwahrheiten, er ist deshalb wahrscheinlich der allergrößte Konkurrent der Kanzlerin in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit in krisenhafter, entscheidender Situation. Kann sie Gehör finden bei all dem Geschrei?

Merkel war an diesem denkwürdigen Abend ganz sicher näher an Kennedy als an Churchill. Ihre Botschaft: Frag ruhig, was dein Land für dich tut, dazu sind wir ja da. Aber vergiss dabei nicht, dass das nicht reicht, wenn Du selber nichts tust. Für dich. Und für die anderen.

20 Minuten – das müsste doch drin sein

Die meisten werden das so verstanden haben, viele aber auch nicht. Es wäre uns allen zu wünschen, wenn die sich die Zeit nähmen, noch einmal der Kanzlerin zuzuhören. 20 Minuten nur. Das müsste doch drin sein.

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