Brexit-Termine gab es schon viele. Lange hieß es, die Briten würden die EU am 29. März 2019 verlassen, ganz bestimmt. Daraus wurde bekanntlich nichts. Dann war vom 12. April die Rede, vom 22. Mai, vom 30. Juni. Schließlich verkündete der im Sommer gekürte Premier Boris Johnson, man werde am 31. Oktober gehen – auf jeden Fall, komme, was wolle.

Nun sind die Briten immer noch EU-Mitglied. Doch nach der historischen Parlamentswahl am vergangenen Donnerstag ist die Wahrscheinlichkeit so hoch wie nie, dass es an dem neuen Austrittstermin, dem 31. Januar, tatsächlich ernst wird – und das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aussteigt.

Denn wenn das Parlament in Kürze wieder zusammentritt, wird einiges anders sein im Unterhaus. An jenem Ort, an dem sich über Jahre diverse Grüppchen und Fraktionen unversöhnlich gegenüberstanden, an dem kein Ausweg aus dem Brexit-Schlamassel mehrheitsfähig erschien, herrschen künftig klare Verhältnisse.

Auf 365 Sitze kommen Johnsons Tories jetzt. Die Labour-Opposition ist dagegen auf 203 Abgeordnete zusammengeschrumpft. Insgesamt liegt die Regierung mit 39 Stimmen weit über der absoluten Mehrheit.

Widerstand gebrochen

Die Folge: Johnson kann künftig alleine durchregieren. Auch ohne die Hilfe der nordirischen DUP, auf die die Tories in ihrer Minderheitsregierung zuletzt angewiesen waren. Selbst Dutzende Abweichler aus der eigenen Partei könnten dem Premier nun nicht mehr in die Quere kommen. Für den Brexit-Streit ändert das alles.

Sobald es konkret wurde, hatten sich die unterschiedlichen Lager beim EU-Austritt in der Vergangenheit stets verhakt. Johnsons Vorgängerin Theresa May scheiterte allein drei Mal mit ihrem mit Brüssel ausgehandelten Austrittsabkommen im Unterhaus. Johnson gelang die erste Hürde im Ratifizierungsprozess erst im zweiten Anlauf. Doch als das Parlament schließlich sein Vertragswerk im Eiltempo in britisches Recht gießen sollte, kündigten proeuropäische Abgeordnete erneut Widerstand an. Johnson zog das Gesetzespaket zurück.

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Nun dürfte es der Premier schnellstmöglich erneut versuchen. Am 17. Dezember soll das neue Kabinett erstmals zusammenkommen, heißt es. Zwei Tage später könnte die Queen mit ihrer obligatorischen Rede die nächste Sitzungsperiode des Parlaments eröffnet. Am Folgetag, dem 20. Dezember, könnten die Abgeordneten in zweiter Lesung über das Brexit-Gesetz beraten.

Bis Ende Januar müssen das Parlament in London und auch die EU-Abgeordneten in Brüssel zugestimmt haben. Nicht viel Zeit für ein derart komplexes Abkommen. Doch es gibt kaum noch ernste Zweifel, dass Johnson mit seiner neuen Mehrheit noch scheitern könnte.

30 Tage für neue Pläne

Entscheidend wird nun vielmehr sein, wie es im Anschluss weitergeht. Denn die schwierigsten Verhandlungen mit der EU stehen den Briten nach dem formalen Austritt erst noch bevor. 30 Tage hat die Regierung dann Zeit, um eine Erklärung abzugeben, wie sie sich die künftigen Beziehungen mit der EU vorstellt. Dazu gab es zwar bereits Gespräche, deren Ergebnis in der unverbindlichen politischen Erklärung festgehalten wurde, die an das Austrittsabkommen angehängt ist. Doch am Ende müssen die Briten einen wasserdichten Freihandelsvertrag mit Brüssel vereinbaren. Ein Mammutprojekt, das Experten zufolge eigentlich Jahre dauern dürfte.

Parlamentswahl in Großbritannien
Alle Wahlkreise ausgezählt (Sitze im Parlament)
NI = Nordirland; Quelle: BBC

Die Übergangsphase, die Großbritannien auch nach dem Brexit am 31. Januar an die EU binden soll, um einen Chaos-Austritt zu verhindern, endet jedoch schon Ende 2020. Kaum vorstellbar, dass Johnson um eine Verlängerung dieser Frist herumkommt. Zumal die Gespräche trotz neuer Mehrheit in Westminster knifflig werden dürften. Etwa der geplante Sonderstatus für Nordirland in den künftigen Handelsbeziehungen hat auch viele Tories im Königreich verärgert. Die Frage, wie die Kontrollen in der Irischen See konkret ausgestaltet werden soll, birgt weiter politischen Sprengstoff.

Gespaltenes Land

Dazu kommt: Auch wenn im Parlament nun geordnete Verhältnisse herrschen – Johnson hat es weiterhin mit einem zutiefst gespaltenen Land zu tun. Vielmehr noch: Die Einheit des Königreichs ist so brüchig wie nie.

In Schottland ist der separatistischen und proeuropäischen SNP ein Erdrutschsieg gelungen. Johnsons Brexit-Kurs kommt im Norden überhaupt nicht gut an – und dürfte nun der dortigen Unabhängigkeitsbewegung neuen Schwung verleihen. SNP-Chefin Nicola Sturgeon erklärte bereits, es gebe jetzt „ein Mandat, dem schottischen Volk die Entscheidung über unsere eigene Zukunft anzubieten“. Was sie meint: ein zweites Referendum über die Abspaltung Schottlands vom Königreich.

Und auch in Nordirland triumphierten nun jene republikanischen Kräfte, die auf eine Vereinigung mit dem zur EU gehörigen Irland drängen – während die probritische DUP Niederlagen einstecken musste. Umfragen zeigten bereits, dass die Separatisten in Nordirland in einer möglichen Abstimmung eine Mehrheit erringen könnten.

Johnson hat jegliche Forderungen nach Unabhängigkeitsreferenden bislang vehement abgelehnt. Die Frage ist, wie lange er nach den jüngsten Wahlergebnissen die aufgeladene Stimmung in Schottland und Nordirland noch ignorieren kann.

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