Neulich in der Kantine. Ein Kollege hebt sinnierend den Blick von seinem Gemüserisotto. „Ich glaube“, sagt er, „ich werde im nächsten Jahr mal was ganz Verrücktes machen. Etwas, das ich noch nie in meinem Leben getan habe.“ Interessierte Gesichter wenden sich ihm zu. Der Kollege macht eine bedeutungsvolle Pause, dann liefert er die Auflösung: „Ich glaube, ich wähle CDU.“

Diese Anekdote wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie ein Einzelfall wäre. Ist sie aber nicht. Es ist ein Erlebnis, dass sich derzeit immer häufiger wiederholt, wenn in eher links-liberalen oder auch links-alternativen Kreisen die Rede auf die anstehende Bundestagswahl kommt.

Immer wieder überraschen dann Menschen, von denen man es wahrlich nicht erwartet hätte, mit dem Bekenntnis, diesmal vielleicht CDU wählen zu wollen: von der feministisch eingestellten Freundin über die sozial engagierte Schwiegermutter bis hin zu der jungen Studentin, die bisher ihr Kreuz bei den Grünen gemacht hat.

Weit mehr als all die gesellschaftspolitischen Reformen, die Merkel ihrer Partei in den vergangenen Jahren aufzwang, scheint ihre Flüchtlingspolitik geeignet zu sein, der Partei neue Wählerschichten in der Mitte zu erschließen. So jedenfalls der subjektive Eindruck. Das gilt sogar noch jetzt, wo immer behauptet wird, Merkel habe ihren ursprünglichen Kurs von Offenheit und Freundlichkeit klammheimlich längst revidiert.

Tatsächlich hat Merkel sich mittlerweile von ihrem „Wir schaffen das“ distanziert. Mit der Schließung der Balkan-Route hat sie sich zumindest abgefunden und der von ihr vorangetriebene EU-Türkei-Pakt hebelt das europäische Asylrecht faktisch aus. Das alles scheint die Neumerkelianer jedoch nicht abzuschrecken.

Merkel machte Eindruck

Zu stark ist der Eindruck, den die Kanzlerin im vergangen Jahr gemacht hat. Das Standing, das sie bewiesen hat, als sie sich weigerte, die deutsche Grenze zu schließen und Horst Seehofers Obergrenzenmodell zuzustimmen, die Festigkeit, mit der sie auf einer europäischen Lösung beharrte, selbst wenn es diese jenseits des EU-Türkei-Pakts bis heute nicht gibt: Das alles scheint ihr Ansehen zumindest im linksliberalen Milieu dauerhaft gesteigert zu haben.

Galt Merkel dort lange als die Frau ohne Grundsätze, der es letztlich immer nur um Machterhalt zu gehen schien, wird sie nun gerade dafür geschätzt, dass sie während der Flüchtlingskrise zumindest an entscheidenden Punkten nicht eingeknickt ist, wohingegen SPD-Chef Sigmar Gabriel mitunter den Eindruck machte, er wolle Merkel rechts überholen.

Und es ist nicht nur die Flüchtlingspolitik: Ihr kritischer Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hat ihr ebenso Respekt eingebracht wie die Tatsache, dass sie sich bislang weigert, auf den grassierenden Populismus mit ähnlich populistischen Tönen zu antworten wie es etwa die CSU immer wieder tut.

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