In den letzten Tagen vor einem Treffen der Nato bekommen die Staats- und Regierungschefs routinemäßig einen Brief aus Brüssel. Mit den vertraulichen Zeilen des Generalsekretärs, im Nato-Jargon Hirtenbrief genannt, steckt die Zentrale des Militärbündnisses gern schon mal die Themen ab, nennt aber auch erwartbare Knackpunkte für das weltweit beachtete Treffen der politischen Führung der Nato.

Der aktuelle Hirtenbrief sieht auf den ersten Blick ähnlich aus. Zwei Seiten lang schreibt Jens Stoltenberg über das Erreichte bei den Verteidigungsausgaben („nie dagewesene Fortschritte“), fordert ein klares Bekenntnis zur Beistandsverpflichtung unter den Partnern. Zudem kündigt er an, die Allianz wolle sich in London erstmals konkret mit „Chancen und Herausforderungen“ befassen, die von China ausgehen.

Ein Satz aus dem Brief aber ist ziemlich bemerkenswert. Zwar tippt Stoltenberg Russland, spätestens nach der Annexion der Krim der große Widersacher der Nato, als Thema für den Gipfel nur an. Dann aber trifft er eine sehr klare Festlegung für die Diskussionen über Russland in London: „Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass wir einen gemeinsamen Ansatz beibehalten“.

Stoltenberg ist genervt von Macrons Alleingängen

Mit der Formulierung zielt Stoltenberg klar auf Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Auch wenn er den Franzosen nicht namentlich erwähnt, sind es seine Alleingänge gegenüber Russland, die Stoltenberg und die europäischen Nato-Partner zunehmend nerven und allen voran die osteuropäischen Nato-Partner ernsthaft besorgen.

Macron hatte die Nato-Partner bereits im August vor den Kopf gestoßen und ohne jede Konsultation einen neuen Umgang mit Russland angebahnt. Wenige Tage vor dem Treffen der G-7-Staaten in Biarritz, an dem Russland seit der Annexion der Krim nicht mehr teilnehmen darf, lud er den russischen Präsidenten Wladimir Putin fast wie einen Freund für Gespräche nach Südfrankreich ein.

Kurz nach dem Gipfel schickte Macron dann Außenminister Jean-Yves Le Drian und Verteidigungsministerin Florence Parly nach Moskau. Nach Jahren der Funkstille redeten sie dort plötzlich über eine neue französisch-russische Sicherheitskooperation.

Für die Nato war die Reise ein Affront: Sie hatte nach der russischen Besetzung der ukrainischen Krim einen Downgrade der Beziehungen beschlossen: Der Nato-Russland-Rat besteht nur noch auf Botschafter-Ebene, dafür verstärkte die Allianz ihre Präsenz in Osteuropa.

Macron forderte „robusten Dialog“ mit Russland

Doch auch politisch schlug die Offerte an Putin große Wellen. Sowohl im deutschen Kanzler- als auch im Außenamt erfuhr man von den Gesprächen aus dem Fernsehen, gerade die Kanzlerin mag solche Überraschungen gar nicht. Doch trotz der Kritik, die Angela Merkel ihrem Kollegen zukommen ließ, machte Macron unbeirrt weiter.

Es müsse neu darüber diskutiert werden, wie Europa verteidigt werden könne, warf er in den letzten Wochen in den Raum, dazu sei auch ein „klarsichtiger, robuster, fordernder Dialog“ mit Russland nötig, er jedenfalls wolle diesen führen „ohne naiv zu sein“. Die letzte Formulierung versteht man im Brüsseler Hauptquartier durchaus als Bewertung der bisherigen Nato-Strategie gegenüber Moskau.

Kurz vor dem Gipfel eskalierte dann die Situation erneut. Ende Oktober schrieb Macron einen Brief an Putin und sagte ihm zu, ein von Moskau vorgeschlagenes Moratorium für Mittelstreckenwaffen in Europa sei es wert, „eingehend geprüft zu werden“. Für Stoltenberg war es ein neuerlicher Schlag ins Gesicht, hatte er doch schon Ende September das Angebot Putins für die ganze Nato abgelehnt.

Das Zugehen auf Moskau bei den Mittelstreckenraketen erschütterte die Nato in den Grundfesten. Nach viel Überzeugungsarbeit der USA sind sich mittlerweile alle 28 Mitglieder einig, dass Russland den historischen INF-Vertrag zwischen Washington und Moskau gebrochen hat.

Der Vertrag gilt als Meilenstein der Abrüstung und sah ein Verbot von landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa vor. Russland aber stationierte in den letzten Jahren trotzdem dutzende SSC-8-Batterien an seinen westlichen Grenzen. Von dort können sie jeden Ort in Europa erreichen.

„Macron ist ähnlich unberechenbar wie Trump“

Dass Macron nun plötzlich über Putins Vorschlag eines Moratoriums reden will, sorgte im Hauptquartier für massiven Ärger. Voraussetzung für jedes Gespräch mit Moskau, darauf hatten sich alle Mitglieder eingeschworen, ist eine nachprüfbare Zerstörung des russischen Raketenarsenals. Durch Macrons Offerte aber, so sagen Nato-Diplomaten, sei diese gemeinsame Linie „mit einem Handstreich pulverisiert“.

Für das Nato-Treffen rechnet die Bundesregierung nach dem außenpolitischen Feuerwerk Macrons nun mit weiteren Überraschungen. In Regierungskreisen hieß es am Montag, man könne zur Rolle Macrons bei dem Mini-Gipfel „schlecht Prognosen abgeben“. Es wäre aber überraschend, wenn er seine provokanten Thesen nicht auch in London vortragen werde, so die Linie.

Ein Diplomat drückte es in den vergangenen Tagen noch etwas deutlicher aus: „Macron ist mittlerweile ähnlich unberechenbar wie Donald Trump, das macht jegliche Planung für einen Gipfel obsolet“.

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