Jean-Luc Mélenchon: Volkes röhrende Stimme

Jean-Luc Mélenchon: Volkes röhrende Stimme

Mehr Menschen hat noch kein Kandidat in diesem Wahlkampf auf die Straße gebracht. Weder die Populistin Marine Le Pen noch der Nationalist Éric Zemmour und auch nicht Emmanuel Macron, der Präsident und Menschenfänger. Ausgerechnet dem Linken Jean-Luc Mélenchon gelingt es, am vergangenen Sonntag bis zu 100.000 Menschen um sich zu versammeln. Dabei haben Linke in diesem Wahlkampf bislang keine Rolle gespielt.

Mélenchons Anhängerinnen und Anhänger sind aus dem ganzen Land mit Sonderbussen nach Paris gereist. Nun drängen sie sich rund um den Platz der Bastille, singen Lieder, schwenken Fahnen. Mitglieder der „Marxistischen Internationalen Tendenz“ verkaufen ein Revolutionsmagazin für zwei Euro; wer den Solidaritätspreis entrichtet, bezahlt drei. Ein paar Rentnerinnen sind auf eine Sitzbank geklettert, sie skandieren: „Macron démission, laisse la place à Mélenchon.“ Macron, der Präsident, möge zurücktreten und Platz machen für Mélenchon, ihren Kandidaten.

Auf dem Platz der Bastille wird an die Revolutionen des politisch traditionell rebellischen Landes erinnert, früher haben Frankreichs Linke hier ihre Siege gefeiert. Im Mai 1981, als François Mitterrand Präsident wurde, und 2012, nach der Wahl von François Hollande. Mehr Siege waren es gar nicht in den vergangenen sechzig Jahren. Aber wen kümmert das? Gegen halb drei setzt sich der linke Karneval in Bewegung, von der Bastille marschiert die Menge zum nicht weit entfernten Platz der Republik. Die bronzene Marianne, das Staatssymbol in Frauengestalt, das über dem Platz thront, trägt in diesen Tagen ein riesenhaftes T-Shirt in Blau-Gelb, den Nationalfarben der Ukraine, darauf steht: „Stop oil, stop war“. Zu Mariannes Füßen ist eine große Bühne aufgebaut.

Jean-Luc Mélenchon trägt wie zumeist bei seinen Auftritten, einen dunklen, dreiteiligen Anzug, darunter ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Bevor er verspricht, den Mindestlohn zu erhöhen, beschwört er das revolutionäre Erbe: „Die Straßen von Paris hallten wider vom Geschrei der Rebellionen und Revolutionen, deren Träger ihr seid. Eure fröhlichen Rufe werden hoffentlich den Mut der am meisten isolierten, verlassenen und gedemütigten Menschen wieder aufrichten.“

Mélenchon will bei der bevorstehenden Wahl nicht nur Präsident werden. Er will, wenn er gewählt wird, die Macht zurück in die Hände des Volkes legen, eine verfassungsgebende Versammlung einberufen und eine neue Republik begründen. Deshalb hat er seine Anhänger zum „Marsch für die Sechste Republik“ aufgerufen. Die Idee der Revolution lebt fort, und ohne Umsturz geht es nicht. Die Linke ist in Frankreich fast immer radikaler aufgetreten als etwa in Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Mélenchon pflegt diese Tradition.

Er wolle „die Geschichte der Welt verändern“, ruft er. Die Sonne scheint, die Menge jubelt, am Tag darauf beginnt der Frühling. Die Welt der französischen Linken scheint an diesem Sonntag in bester Ordnung zu sein. Doch der Eindruck täuscht: Nie war die Linke in Frankreich so schwach wie heute.

Im April wird in Frankreich ein neuer Präsident oder eine Präsidentin gewählt, am 10. April findet die erste Wahlrunde statt. Insgesamt zwölf Bewerberinnen und Bewerber treten an, die Hälfte von ihnen sind Linke: eine Trotzkistin, ein Antikapitalist, ein Kommunist, eine Sozialistin, ein Grüner und eben Mélenchon. Aber in den aktuellen Umfragen kommen alle sechs zusammen auf weniger als 30 Prozent der Stimmen. Und der einzige linke Kandidat, der überhaupt eine Chance hat, die zweite und entscheidende Wahlrunde zu erreichen, ist Mélenchon.

Der heute 70-Jährige war als Student Trotzkist. Später trat er in die Sozialistische Partei (PS) ein, er wurde ein glühender Anhänger des damaligen Präsidenten Mitterrand. Mélenchons politische Biografie spiegelt die endlosen Strömungs- und Flügelkämpfe, die die französische Linke seit Jahrzehnten durchziehen. Es gab die Antiliberale Linke, die Sozialistische Linke, die Neuen Sozialisten – die Formationen wechselten ständig. Aber letztlich kreisten alle Auseinandersetzungen um die älteste aller linken Fragen: Brauchen wir eine Revolution, oder sind wir zu Kompromissen bereit?

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