Victoria
Ivleva ist eine Fotografin und Aktivistin aus Moskau. Für ihre
Fotoserie zum Kernkraftwerk Tschernobyl wurde sie 1991 mit dem World Press
Photo Award
ausgezeichnet. Seit März 2022 lebt sie in Kiew und bereist von dort die
Frontgebiete.
ZEIT ONLINE: Frau Ivleva, Sie waren schon in vielen Krisengebieten. In Tschernobyl,
Ruanda oder Afghanistan. Im Februar haben Sie eine Woche in Bachmut verbracht.
Was ist das für ein Ort?
Victoria
Ivleva: Einer der gefährlichsten der Welt. Eine Wiederholung von
Mariupol. Und dieser Krieg insgesamt ist eine große Wiederholung dessen, was
russische Soldaten in Tschetschenien angerichtet haben. Ich war nicht in
Tschetschenien, aber man muss nicht immer vor Ort gewesen sein, um die Dinge zu
verstehen.
ZEIT ONLINE: Was haben Sie in Bachmut erlebt?
Ivleva: Es
ist ein lauter Ort. Ständig wird geschossen. Überall. Aber für mich war es
manchmal noch schlimmer, noch furchteinflößender, wenn der Beschuss plötzlich
aufhörte. Diese Stille ist schlimmer als jeder Schuss, jede Explosion, jeder
Knall. Weil sie dich verwirrt. Wenn geschossen wird, ist es klar, was zu tun ist:
Wirf dich auf den Boden, suche Zuflucht, oder runter in den Keller. Aber wenn
es dann plötzlich ruhig ist – das ist so eine furchtbare Stille, bei der du
dich sofort fragst: Was passiert jetzt? Zugleich ist es eine unnatürliche,
absolute Geräuschlosigkeit, mitten in einer Stadt.
ZEIT ONLINE: Das klingt paradox.
Ivleva: Eines
Tages hatte ich entschieden, in das Stadtzentrum zu gehen. Bachmut ist keine
große Stadt. 72.000 Menschen lebten dort vor der großen Invasion. Und plötzlich:
Stille. Da hat mich das Grauen überwältigt, weil ich mir in diesem Moment vorgestellt
habe: Was, wenn mich jetzt eine Kugel, eine Granate, eine Rakete trifft, hier,
inmitten von Bachmut, ohne eine Menschenseele weit und breit – wer wird mich
dann überhaupt finden, und wann? Es ist ein Ort der vollkommenen Unsicherheit
und Ungewissheit.
ZEIT ONLINE: Und der Einsamkeit?
Ivleva: Die
wenigen Menschen, die es noch gibt, versammeln sich an den „Punkten der
Unbezwingbarkeit“, den öffentlichen Aufwärmorten in der Stadt, wo es Wärme,
Strom und Wasser gibt, oder bei ihnen zu Hause, in den Kellern. Es gibt
natürlich noch immer Menschen dort, die dort ständig leben.
ZEIT ONLINE: Laut Schätzungen zwischen 4.000 und 5.000.
Ivleva: Aber
du bist ein Sklave der äußeren Umstände. Du bestimmst dein Leben nicht, dein
Leben wird von den äußeren Umständen bestimmt.
ZEIT ONLINE: Gibt es Geschichten, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ivleva: Jeder
Mensch, der in so einer Situation lebt, hat eine eigene, besondere Geschichte. Der
eine hat seinen engen Angehörigen verloren, der andere hat sein Haus
verloren. Das sind alles keine Geschichten, die das Leben normalerweise
schreibt. Jede einzelne Geschichte ist für sich genommen eine Geschichte des
absoluten Grauens. Zwei ältere Frauen haben mir erzählt, wie froh sie sind,
dass sie bei den Soldaten in der Nähe manchmal Wasser holen können. Gerade so
viel, dass sie sich ein wenig Dreck vom Körper abrubbeln können. Nichts ist
dort normal, obwohl es mitten in Europa ist.
ZEIT ONLINE: Man spürt diese andere, surreale Realität förmlich, wenn man Ihre
Schwarz-Weiß-Fotos ansieht. Die Menschen auf Ihren Bildern wirken fast wie aus
einer anderen Zeit.
Ivleva: Wer
bleibt an so einem Ort zurück? Wer wohlhabend ist oder zumindest noch einen
eigenen Willen hatte, ist schon längst weg. Und die Menschen, die es gewohnt
sind, dass andere für sie Entscheidungen treffen, sind geblieben. Jene, die vielleicht
auch denken: Wenn ich weggehe, werden sie mein Haus plündern. Aber das ist
alles, was ich habe. Also bleibe ich lieber – obwohl ich auch sterben könnte.
ZEIT ONLINE: Sie haben eine Hauswand fotografiert, auf der auf Ukrainisch steht:
„Bachmut liebt die Ukraine“, daneben ein Bild des ukrainischen Armeeführers,
General Walerij Saluschnyj. Ich bin mir nicht sicher, ob das Bild Hoffnung
ausstrahlt – oder doch absolute Trostlosigkeit.
Ivleva: Jeder
sieht die Fotos auf seine Art. Aber ich glaube, das Bild zeigt: Dass Bachmut
ukrainisch ist. Dass niemand bereit ist, es aufzugeben. Aber diese Wand gibt es
nicht mehr. Eine Granate hat diese Wand bereits zerstört.
ZEIT ONLINE: Hatten Sie auch Kontakt zu ukrainischen Soldaten?
Ivleva: Es
ging mir eher darum, das Leben der Zivilisten zu erzählen. Über das Leben der
Soldaten berichten ohnehin alle. Jeden Tag sind so viele Journalisten und
Fotografen nach Bachmut gekommen, wie zu einer Exkursion. Wen macht der Krieg
glücklich? Niemanden. Weil jeder jemanden hat, den er verloren hat. Ich denke,
dass viele Menschen gerade über diese Dinge nachdenken.
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