Auf den ersten Blick hat Frankreich sich im Kreis gedreht. Am Ende der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron sieht es so aus, als sei das Land wieder genau dort angekommen, wo es schon einmal war: In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen stehen sich am 24. April Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenüber, ganz so wie vor fünf Jahren. Dieselben Kandidaten, das gleiche Duell – und doch ist etwas Entscheidendes anders: Le Pen könnte diesmal tatsächlich Präsidentin werden. Auf jeden Fall spricht sie schon so.

„Mein größter Ehrgeiz ist es, die Franzosen zu vereinen“, sagt Le Pen am Sonntagabend in Paris, als die Ergebnisse der ersten Wahlrunde feststehen. Sie wolle „die Präsidentin aller Franzosen“ sein; es sei an der Zeit, die Brüche zu „heilen“, unter denen das Land und seine Menschen litten. Le Pen liest vom Blatt, ihre Stimme klingt nicht mehr ganz so rau wie früher, sie spricht ohne Überschwang. Die wichtigste Etappe liegt noch vor ihr. Nur ihre Anhänger skandieren schon: „On va gagner“, „Wir werden gewinnen“. Die Populistin tritt als Staatsfrau auf, die Spalterin will versöhnen – und niemand lacht.

Marine Le Pen kandidiert zum dritten Mal für das Präsidentenamt. Sie hat am Sonntag 23,4 Prozent der Stimmen gewonnen, über acht Millionen Menschen haben sich für sie entschieden, mehr als jemals zuvor in einer ersten Wahlrunde. Vor fünf Jahren hat sie in der Stichwahl haushoch gegen Macron verloren, auch diesmal tritt er als Favorit an. Doch sein Vorsprung ist gering, die Gefahr, dass Frankreich künftig von einer Nationalistin regiert wird, größer denn je. Von einer Frau, die der Europäischen Union den Kampf angesagt hat, die die Zusammenarbeit mit Deutschland aufkündigen will und bei ihrem letzten Wahlkampf noch von Wladimir Putin unterstützt wurde. Und die vor Kurzem eigentlich schon abgeschrieben war. Wie konnte sie noch einmal so stark werden?

An einem sonnenklaren, kalten Tag im vergangenen Dezember besucht Marine Le Pen einen Bauernhof in Mesnil-Raoul, einem Weiler in der Normandie. Die französischen Landwirte haben in der Vergangenheit mehrheitlich für bürgerlich-konservative Kandidaten gestimmt, das Verhältnis zu Le Pen und ihrer Partei, dem Rassemblement National (RN), war angespannt. Doch nun stapft sie in Gummistiefeln durch die Stallungen, die Bauern und ihre Verbandsvertreter klagen der Kandidatin ihr Leid. Und sie sucht deren Unterstützung. Das Gespräch dreht sich um Fragen des Tierwohls, den Einsatz von Pestiziden und die Konkurrenz durch große, industrielle Agrarunternehmen etwa in China. Le Pen reibt sich die verfrorenen Hände, hört zu und spricht über das „territoriale Gleichgewicht“, das wiederhergestellt werden müsse. Die Klage über die Vernachlässigung ländlicher Regionen ist in Frankreich groß.

Le Pen lebt in einem wohlhabenden Vorort von Paris, sie ist in der Hauptstadt aufgewachsen und hat dort studiert. Im Wahlkampf aber tingelt sie über Marktplätze und Bauernhöfe, oft besucht sie kleinere Orte, die Städte lässt sie links liegen. Diese Strategie ändert sie auch nicht, als die anderen Kandidaten anfangen, sich mit großen Kundgebungen gegenseitig zu übertrumpfen. Le Pen zeigt sich nahbar, eine Politikerin, die fernab von Paris mit den Menschen im Gespräch ist – ein bewusst inszenierter Kontrast zu Emmanuel Macron, dem vermeintlich abgehobenen Präsidenten. Und die Strategie geht auf: Zwei Drittel der Französinnen und Franzosen sagen in Umfragen, Le Pen sei nah an den Sorgen der Menschen.

Damals, im Dezember, ist allerdings noch nicht Macron ihr größter Gegner. Le Pen hat unerwartet Konkurrenz im eigenen Lager bekommen. Der frühere Journalist Éric Zemmour hat gerade seine Kandidatur verkündet und zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, einige Umfragen sehen ihn schon vor Le Pen. Die ersten Abgeordneten des RN verlassen die Partei und schließen sich Zemmour an. Sogar ihre eigene Nichte, Marion Maréchal, wird diesen später unterstützen. Zemmour verkörpert eine radikale, identitäre Rechte, die Frankreich in einem fortwährenden Kulturkampf wähnt und das Land gegen Zuwanderer und Muslime verteidigen will. Das will auch Le Pen, doch die ist in den Augen von Zemmour und seinen Anhängern viel zu weich geworden.

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