Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine scheinen die Pazifisten verstummt zu sein. Philipp Gassert, Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte über ein Repräsentationsdefizit im Bundestag und die Geschichte des Pazifismus in Deutschland.

Die Aktion auf dem Alexanderplatz war in wenigen
Minuten vorbei: Am 12. Mai 1983, kurz vor 12 Uhr, entrollten fünf Bundestagsabgeordnete
der Grünen, Gert Bastian, Lukas Beckmann, Petra Kelly, Roland Vogt und Gabriele
Potthast, mitten im Zentrum von Ostberlin, direkt unter der Weltzeituhr, zwei
Banner mit den Aufschriften „Die Grünen: Schwerter zu Pflugscharen“ und „Jetzt
anfangen: Abrüstung Ost + West“.

Mitarbeiter der Staatsicherheit waren vor Ort.
Sie rafften die Transparente rasch zusammen. Eine Diskussion entbrannte. Kelly
verteilte Tulpen und Narzissen an verdutzte Passanten. Die Stasi setzte die
Abgeordneten vorübergehend fest, informierte DDR-Staatschef Erich Honecker und entließ
die Bonner Abgeordneten noch am gleichen Nachmittag zurück nach Westberlin. Das MfS stufte
den Stunt als Aktion „mit geringer Massenwirksamkeit ein“.

Es gab nie nur eine einzige Friedensbewegung

So kann man sich irren: Zwar tendierte das unmittelbare Echo auf den Sekundenprotest in Ostberlin gen null, wie die Kelly-Biographin
Saskia Richter berichtet. Viele Passanten waren ängstlich weitergegangen. Doch in den Westmedien war die
Resonanz riesig und wirkte über das Fernsehen auf die DDR zurück. Von den Tagesthemen bis zu Provinzblättern rissen
sich alle um Statements der fünf Protagonisten.

Innerhalb der Grünen wie auch
im Lager der Friedensbewegung hagelte es indes Kritik. Kelly und ihre
Gesinnungsgenossen hätten aus „Geltungsbedürfnis“ und „Eigenbrötlerei“ einem gleichzeitig
laufenden großen Kongress der europäischen Friedensbewegungen im Berliner ICC
die Schau gestohlen. Die Aktion sei leichtsinnig gewesen, hätte die DDR-Führung
und Moskau provozieren können. Mitglieder der DDR-Friedensbewegung wie Ulrike
Poppe und Bärbel Bohley wunderten sich dagegen über den innerparteilichen
Streit im Westen. Sie sahen sich von Kelly & Co. unterstützt.

Diese Episode aus den Hochzeiten des Kalten Kriegs, als
sich angesichts der bevorstehenden Nato-Nachrüstung im heißen Sommer und Herbst
1983 Millionen Menschen vor einem Atomkrieg fürchteten,
kann helfen, die heutige Friedensdebatte einzuordnen: Damals wie heute gibt es nicht die eine einzige Friedensbewegung,
sondern eine Bandbreite friedenspolitischer Haltungen.

Anschaulich zeigte sich das vor wenigen Wochen an Ostern in Berlin auf den zwei konkurrierenden Ostermärschen: Prinzipielle
Pazifisten oder „Traditionalisten“ lagen mit Befürworterinnen des Rechts der
Ukraine auf Selbstverteidigung im Clinch.

Dass die beiden Ziele, Frieden und Menschenrechte, durchaus miteinander konkurrieren können, war schon in Achtzigern klar. Im Juni 1983, in
einer legendär turbulenten Bundestagsdebatte, machte CDU-Generalsekretär Heiner
Geißler den gesinnungsethischen Pazifismus der Dreißigerjahre für die „damalige
Schwäche“ der freiheitlichen Demokratien verantwortlich – und in der Konsequenz
für „Auschwitz“ und millionenfachen Tod.

Pazifismus als Utopie

Obwohl es 1983 keinen heißen Krieg in
Europa gab, wirkte Frieden auch damals wie „ein ferner Traum“. Mit dieser Formel
hat jüngst Vizekanzler Robert Habeck eine angeblich fehlende Thematisierung
von Putins Kriegsverbrechen in der Ukraine kritisiert, aber sich als grüner
Minister zugleich vom traditionellen Pazifismus distanziert.

Dabei war Pazifismus schon seit den Tagen seiner Gründermutter im späten
19. Jahrhundert, Bertha von Suttner, stets Utopie. Von Suttner forderte die
Friedensanhänger auf, sich öffentlichen zu ihren Zielen zu bekennen, sie trat
für das Recht auf Landesverteidigung ein, und wusste auch um die Grenzen ihrer Parole
„Die Waffen nieder“. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, wirkte ihr Pazifismus
ähnlich aus der Zeit gefallen wie der heutige.

Mit historischen Versatzstücken spielte auch Alexander
Graf Lambsdorff, als er jüngst in der ZEIT Ostermarschierende als „fünfte
Kolonne“ Putins brandmarkte. Das reaktivierte Redeweisen, die 1983 während
des Streits um den Nato-Doppelbeschluss gängig waren. Damals wurde über die
„Unterwanderung der Friedensbewegung“ durch Ostberlin und Moskau polemisiert.
Tatsächlich versuchten östlich finanzierte Gruppierungen innerhalb der westdeutschen
Friedensbewegung die sowjetische Mitverantwortung für den nuklearen Rüstungswettlauf
zu kaschieren. Westdeutsche Kommunisten machten die Nato und US-Präsident Ronald
Reagan einseitig für die Hochrüstung verantwortlich. Auch jetzt sind wieder Plakate
„USA-Nato wollen keinen Frieden“ zu sehen – ein Argumentationsmuster, das auch die Propagandaabteilungen des
Kreml bedienen. In den Achtzigerjahren trafen derartige Einseitigkeiten auf
Widerspruch bei Menschen wie Kelly und Beckmann, die auch daher ganz bewusst in
Ostberlin auf dem Alexanderplatz für „Abrüstung Ost + West“ demonstrierten.

Der Pazifismus hat heute keine feste Heimat mehr in den deutschen Parteien. Er ist ohne nennenswerte Lobby im Bundestag. Die Linkspartei steht unter Schock, ihr Pazifismus ist öffentlich in Misskredit geraten nach Jahren demonstrativer Russland-Nähe. Der Diktator im Kreml hat sie als „nützliche Idioten“ (Lenin) vorgeführt.
Weder im linksliberalen Regierungslager, wo friedensbewegte Positionen traditionell stark waren, noch von der größten Oppositionsfraktion, der Union, wo
dies eh nicht zu erwarten ist, wird Kritik an Waffenlieferungen geübt. Diejenigen, die, vor allem in der SPD, innere Vorbehalte hegen,
halten sich diszipliniert zurück, zumal der Kanzler am 1. Mai in einem seiner
wenigen Momente emotionalen Engagements, Gegner von Waffenlieferungen als
Zyniker brandmarkte.

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