Asya Tulesowa will sich nicht gewöhnen. An die Anrufe, an die Besuche, selbst an ihrem Geburtstag: Sicherheitsleute baten auf ihrer Feier mit Freunden in einer Bar zum Gespräch. Kontrolle bedeute eben Kontrolle, habe ihr ein Beamter mitgeteilt. Es sind Machtdemonstrationen, die der 35-Jährigen verdeutlichen sollen: Wir haben dich im Blick.

Asya wehrt sich. Als sie in einem Café in Almaty mitbekommt, dass sie von einem Mann überwacht wird, schaltet sie die Kamera ihres Handys an und geht auf ihn zu: „Guten Tag“. Er versucht, sein Gesicht zu verbergen, sie filmt weiter, er springt auf und läuft weg. „Auf Wiedersehen“, ruft Asya.

Adamdar

Asya Tulesowa und Beibarys Tolymbekow im Gericht in Almaty

Einen Glücksfall nennt sie das Video. Es komme selten vor, dass man einen Bewacher überrasche, sagt die Umweltschützerin, die sich unter anderem für saubere Luft in ihrer Heimatstadt einsetzt.

„So, fertig“, Asya postet den Clip auf Instagram. Innerhalb weniger Minuten bekommt sie Hunderte Likes, Nachrichten wie „Gut gemacht“, „Mach weiter so“. „Yeah“, sagt sie und lächelt ein wenig stolz. „Wir müssen anfangen, öffentlich zu reden, die Angst überwinden und unsere Meinungen als Bürger zeigen, damit sich etwas ändert.“

Neuer Präsident, aber kein Machtwechsel

Asya kennen inzwischen viele junge Kasachen. Sie gilt als eine, die sich traut, in einem autoritären Regime auszusprechen, wovor viele zurückschrecken: dass es am Sonntag in Kasachstan wieder keine freien Wahlen gibt. Dass es nur darum geht, den Wechsel abzusegnen, den Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew im März nach fast drei Jahrzehnten im Amt bestimmt hat.

Nursultan Nasarbajew (l.) und sein Nachfolger im Präsidentenamt

Kazakh Presidential Press Service/ REUTERS

Nursultan Nasarbajew (l.) und sein Nachfolger im Präsidentenamt

Nach Nasarbajews Willen trägt Kassym-Schomart Tokajew, der dem Machthaber treu als Premier und Außenminister diente, vorübergehend den Titel Staatschef. Das Volk soll ihn nun mit der Abstimmung legitimieren. Niemand zweifelt daran, dass dies passiert.

Die Frage ist nur, mit wie viel Prozent. 97 Prozent wie zu Nasarbajews Zeiten werden es sicher nicht. Schließlich ist der weiterhin „Jelbasy“ (kasachisch für „Führer der Nation“), Chef der Regierungspartei Nur-Otan (Licht des Vaterlands) und Vorsitzender des mächtigen Sicherheitsrats. Damit hat er eine Machtposition, auch ohne Präsidententitel.

Asya nennt die Abstimmung ein „Theater“. Sie wird nicht teilnehmen, als Wahlbeobachterin im Einsatz sein.

Kreativer Protest auf der Straße und im Internet

Ende April in Almaty, der größten Stadt Kasachstans im äußersten Südosten des Landes. Es ist Marathon, Asya steht mit Beibarys Tolymbekow am Straßenrand mit einem Banner: „Du kannst nicht vor der Wahrheit wegrennen“ steht da. Dazu Hashtags, übersetzt: #fürfreiewahlen und #ichhabeeinewahl.

Protestbanner beim Marathon in Almaty:

Tamina Ospanova

Protestbanner beim Marathon in Almaty: „Du kannst nicht vor der Wahrheit wegrennen“ steht da. Dazu

Asya und ihr Begleiter kommen in Gewahrsam und werden am nächsten Tag verurteilt – Begründung: Verstoß gegen das Versammlungsrecht. Die Bilder der beiden verbreiten sich in kürzester Zeit in sozialen Medien. Amnesty International stuft die Strafe als politisch motiviert ein. Asya protestiert dagegen auf ihre Weise: Sie isst während der 15 Tage Haft nicht.

Draußen gehen die Aktionen weiter: Roman Sacharow, 30 Jahre, zum Beispiel, befestigt wenige Tage später an einer Brücke in Almaty ein Transparent mit der Aufschrift: „Die einzige Quelle der Staatsmacht ist das Volk.“ Ein Zitat aus der kasachischen Verfassung. „Was da steht und was wir in Wirklichkeit haben, sind zwei sehr verschiedene Dinge in diesem Land“, sagt der Illustrator.

Roman Sacharow:

Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINE

Roman Sacharow: „Die einzige Quelle der Staatsmacht ist das Volk“

Er wird zu fünf Tagen Haft verurteilt, soll die öffentliche Ordnung gestört, Kabelbinder und Klebeband unsachgemäß entsorgt haben. Doch dann überlegt man es sich noch einmal, wandelt das Urteil innerhalb von sieben Minuten in eine Geldstrafe von 13.000 Tenge um, etwa 30 Euro.

Selbst kleine Protestaktionen sind für Kasachstan bedeutend, weil es die Jungen sind, die sich öffentlich – auch im Internet – äußern. Sie galten lange als unpolitisch, hielten sich lieber raus, so wie es ihre Eltern noch zu Sowjetzeiten gelernt hatten.

Asya, Roman und die anderen sind gut ausgebildet, sprechen Fremdsprachen, wollen aber – anders als Zehntausende, die ihre Heimat verlassen haben – in Kasachstan bleiben. Sie sind vernetzt, verfolgen, was politisch in anderen Ex-Sowjetstaaten möglich ist, zuletzt in der Ukraine, als der TV-Produzent Wolodymyr Selenskyj demokratisch zum Staatschef gewählt wurde. Das weckt auch in Kasachstan Hoffnungen.

Protestbanner

privat

Protestbanner „Das Volk ist die einzige Quelle der Staatsmacht“ in Almaty

„Das hat die Staatsmacht hier nicht verstanden. Sie dachte, sie hat alles unter Kontrolle. Doch das war eine Illusion“, sagt der Politologe Dosym Satpajew. Jeder Schritt sei genauestens geplant worden, einschließlich des Bestätigungsvotums für Tokajew.

Seine sechs Gegenkandidaten wirken wie Statisten, treten nur begrenzt in Erscheinung. Das liegt schon allein daran, dass die Regierungspartei über einen riesigen Apparat und ein Millionenbudget verfügt.

Mit dem Protest der Jungen habe man nicht gerechnet, sagt Politologe Satpajew. Dabei gebe es schon länger Unmut in der Bevölkerung, etwa über die grassierende Korruption. Dass die Sicherheitsbehörden so scharf auf die Aktionen reagierten, hält er für einen Fehler. „Viele Menschen nehmen das persönlich. Schließlich haben auch sie Kinder und fragen sich: Was ist, wenn diese ihre Kritik äußern – werden sie auch festgenommen?“

Groll über Umbenennung

Präsidentenpalast in Nursultan:

Taylor Weidman/ Bloomberg/ Getty Images

Präsidentenpalast in Nursultan: „Kurs der Stabilität“

Nursultan, im Norden des Landes. Die Hauptstadt mit ihren Hochhäusern und Glasbauten trägt nun den Vornamen des „Ersten Präsidenten“, was nicht gerade für Euphorie bei den Bewohnern sorgt; der ehemalige Stadtname Name Astana vielen auch als Stadt der Weltausstellung 2017 bekannt.

Farchad Kuanganow, Sekretär der Regierungspartei Nur-Otan, zeigt sich optimistisch, der Zuspruch sei groß: Der „Kurs der Stabilität“, von Nasarbajew eingeschlagen, werde weiter unterstützt. Wahrscheinlich habe sich die SPIEGEL-Korrespondentin nur mit einer Gruppe der Gesellschaft unterhalten. Natürlich werde der Dialog mit allen, aber insbesondere den Jungen gefördert, „eines unserer Hauptziele ist es, ihre politische Aktivität zu fördern“. Allerdings gilt das eben nur für jene, die sich innerhalb des bestehenden Systems engagieren wollen.

Nicht nur Haft, sondern auch Militär

Alimschan Isbassarow, 23 Jahre, steht mit jungen Männern im Hof einer Militärsammelstelle in Nursultan. Sein Kopf ist kahl rasiert. Am Vorabend hat er Besuch von Polizisten und Soldaten bekommen: Er müsse seinen Armeedienst antreten – am folgenden Tag.

„Sie wollen mich isolieren, mich abhalten, mich weiter politisch zu engagieren“, glaubt er. Er ist nach Angaben von Menschenrechtlern nicht der einzige junge Mann, der früher zum Militär muss, nachdem er protestierte.

Alimschan Isbassarow mit Verwandten in einer Militärstelle in Nursultan

Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINE

Alimschan Isbassarow mit Verwandten in einer Militärstelle in Nursultan

Anfang Mai hatte Alimschan mit Dutzenden anderen das gewagt, was in Kasachstan nicht vorgesehen ist: zu demonstrieren – und das für freie Wahlen. 15 Tage musste er in Haft, und damit nicht genug, er muss jetzt zur Nationalgarde, der Truppe für das Innere.

Seine Mutter und Tante sind gekommen, sie haben Tränen in den Augen, seine Schwester und Freunde drücken Alimschan: „Ich habe vor nichts Angst. Es geht mir gut, ich wollte ja zur Armee, aber eben später“, sagt er. Es klingt ein bisschen so, als wolle er sich selbst beruhigen.

In Almaty verkünden Aktivisten, Ökonomen und Journalisten am selben Tag trotz des Drucks die Gründung der Bürgerbewegung „Wach auf, Kasachstan“. Neben freien Wahlen fordern sie tief greifende demokratische Reformen.

Eigentlich hatte Asya, die dabei ist, gehofft, mit Alimschan einen Mitstreiter in der Hauptstadt gefunden zu haben. Doch der ist nun für ein Jahr weg.

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