Innerhalb weniger Tage sind in Kasachstan friedliche Proteste gegen Gaspreise in einen blutigen Aufstand gegen die Diktatur umgeschlagen. Tausende Menschen sind auf den Straßen, in mehreren Städten wurden Stadtverwaltungen gestürmt. Eine gefährliche Lage, nicht nur für die Machthaber im neuntgrößten Land der Welt.

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Schangaösen ist eine unbedeutende Stadt im Südwesten Kasachstans. Doch hier nahm am vergangenen Wochenende eine Protestwelle ihren Lauf, die inzwischen das gesamte Land erfasst hat. Die gestiegenen Preise auf Flüssiggas an den Tankstellen trieben die Menschen bei Eiseskälte auf die Straße. Nach Neujahr waren die Preise um 100 Prozent erhöht worden. Am Sonntag tauchten auch im Zentrum der Hauptstadt Kasachstans Nur-Sultan im Norden des Landes erste Demonstranten auf. Zwei Tage später breiteten sich die Proteste auf die gesamte zentralasiatische Republik aus.

Im Versuch, die Proteste zum Erliegen zu bringen, kündigte die Regierung eine Senkung der Gaspreise an. Doch vergeblich. Aus wirtschaftlichen wurden schnell politische Forderungen. Am Dienstagabend marschierten tausende Menschen durch die Hauptstadt und skandierten „Alter Mann, geh weg!“. Gemeint ist Kasachstans Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew. 2019 trat er zwar nach drei Jahrzehnten als Präsident zurück. Doch als Vorsitzender der Partei Nur Otan, Chef des Sicherheitsrats und „Führer der Nation“ hält er alle Fäden der Macht weiter in seinen Händen.

Einen Rücktritt seines Herren konnte der offizielle Nachfolger im Amt des Präsidenten Kasym-Zhomart Tokayev natürlich den Demonstranten nicht anbieten. Stattdessen trat sein gesamtes Regierungskabinett geschlossen am Mittwoch zurück. Übergangsweise soll der bisherige Vize-Regierungschef Älichan Smajylow die Amtsgeschäfte übernehmen, heißt es in dem entsprechenden Erlass des Präsidenten. 

Demonstranten nehmen Regierungsgebäude ein

Doch auch dieser Schritt brachte die Proteste nicht zum Erliegen. Im Gegenteil. In der Wirtschaftsmetropole und ehemaligen Hauptstadt Almaty mündeten die Krawallen am Mittwochmorgen im Sturm der Stadtverwaltung. Bewaffnet mit Schilden, Rohren und Stöcken nahmen die Demonstranten das Gebäude ein, meldet die Nachrichtenagentur „Sputnik Kasachstan“.  Videoaufnahmen zeigen die Erstürmung des Regierungsgebäudes.

Inzwischen stehen die Stadtverwaltung und die Zentrale der Staatsanwaltschaft, das ebenfalls eingenommen worden war, in Flammen. 

Kasachstan: Die Stadtverwaltung in Almaty in Flammen
© Twitter Privat

Ausgebrannte Autowracks in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans
Ausgebrannte Autowracks in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans
© Stringer

Einige der Demonstranten versuchten nach Angaben der Behörden am Mittwochmittag in die Residenz des ehemaligen Präsidenten einzudringen, während die Sicherheitskräfte im Inneren in der Defensive sind. Auch dort waren Flammen zu sehen. „Alles in der Nähe ist in Rauch gehüllt, Explosionen von Blendgranaten und Schüsse sind zu hören“, berichtete das lokale Internetportal Vlast. Militäreinheiten sollen nach Almaty zusammengezogen werden, um die Proteste niederzuschlagen, meldete die Nachrichtenagentur KazTAG. 

Bereits in der Nacht kam es in Almaty zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Nach Berichten lokaler Medien setzte die Polizei Tränengas und Blendgranaten ein. In Videos waren Explosionsgeräusche zu hören. Bilder zeigten brennende Polizeiautos. Die Sicherheitskräfte nahmen nach Angaben des Innenministeriums mehr als 200 Menschen fest. 190 Menschen wurden nach offiziellen Angaben verletzt, darunter 137 Polizisten. 40 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden.

Auch in kleineren Städten stürmen Demonstranten Regierungsgebäude 

In anderen Städten des ölreichen Landes spielen sich ähnliche Szenen ab. In Qostanai im Norden des Landes überwanden die Demonstranten die Polizeiabsperrungen und drangen in das Gebäude der Regionalverwaltung ein, meldet die Nachrichtenagentur Interfax-Kasachstan. Auch in der Stadt Aktobe im Nordwesten gelang die Einnahme der Stadtverwaltung.

Tokajew hatte zunächst mit eindringlichen Appellen versucht, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. „Reagieren Sie nicht auf die Aufrufe, offizielle Gebäude zu stürmen. Das ist ein Verbrechen“, sagte der Staatschef. Bis zum 19. Januar gilt nun in einigen Landesteile der Ausnahmezustand, darunter in der Hauptstadt Nur-Sultan, in Almaty und in der Region Mangystau im Westen Kasachstans. Damit verbunden sind etwa Ausgangssperren in den Nachtstunden und Versammlungsverbote. 

Das Internet ist offenbar im ganzen Land abgeschaltet worden, berichtet die BBC unter Berufung auf den Blockierungs-Überwachungsdienst GlobalCheck. Messengerdienste wie Telegram und WhatsApp wurden bereits zuvor blockiert. Zug- und Flugverbindungen werden unterbrochen. Auch Medien und Nachrichtenagenturen werden blockiert. 

Mehre TV-Sender sollen ihr Programm unterbrochen haben. Demonstranten kapern in Almaty Fahrzeuge der Feuerwehr und Polizei. Waffengeschäfte werden geplündert. Videoaufnahmen zeigenden, wie Demonstranten auf den Straßen Polizeikräfte entwaffnen und ihre Waffen an sich nahmen.

In mehreren Städten sollen sich nach Angaben von Augenzeugen und lokaler Medien Sicherheitskräfte den Demonstranten angeschlossen haben. Wie hier in der Stadt Aktobe: 

Kreml alarmiert über die Proteste in Kasachstan 

Einer, der die Lage in Kasachstan ganz genau verfolgt, heißt Wladimir Putin. Kasachstan ist der wichtigste Verbündete Russlands. 2010 hatten die beiden Länder gemeinsam mit Belarus die Zollunion gegründet. Jede innenpolitische Instabilität in dem Nachbarstaat, mit dem Russland die längste Grenze verbindet und auf dessen Territorium der Weltraumbahnhof Baikonur liegt, könnte auch eine Gefahr für den Kreml bedeuten. Die Russische Föderation wird alles daran setzen, Kasachstan nicht aus ihrem Einflussbereich zulassen. Solange der Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew die Fäden in der Hand hält, kann sich Putin seines Einflusses gewiss sein. Ein wahrer Machtwechsel würde diesen jedoch in Gefahr bringen. paid

Schon jetzt werden in Moskau erste Stimmen laut, bei den Protesten könnte es sich um den Anfang der nächsten „Orangenen Revolution“ nach dem Vorbild der Ukraine handeln – für den Kreml der absolute Alptraum. 

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