Wenn Wladimir Putin in diesen Tagen in seinen berühmten
Mäppchen liest, die Lageberichte, die seine Dienste
zusammenstellen, könnte er eigentlich zufrieden auf das vergangene Jahr zurückblicken. Die Staatsfinanzen sind stabil,
die Corona-Zahlen entwickeln sich wieder rückläufig und von politischen Protesten
ist weit und breit keine Spur, seit sein bekanntester Widersacher Alexey Nawalny
im Gefängnis sitzt.

Gleichwohl wirkt der Mann im Kreml wie ein Getriebener. Als würde
eine Aufnahme der Ukraine in die Nato unmittelbar
bevorstehen, pocht Putin auf dringende Verhandlungen mit den USA und ihren
Alliierten. Parallel dazu lässt der Kreml nur halbherzig Berichte über einen
russischen Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine dementierten. Mehr noch: Auf die Frage von
Journalisten nach möglichen Angriffsplänen gegen die Ukraine antwortete Putin
gleich zu mehreren Gelegenheiten nicht etwa mit einem klaren Nein, sondern
lamentierte darüber, dass sein Land friedvoll sei, jedoch das Recht habe,
eigene Sicherheitsinteressen zu schützen.

Noch nie in den vergangenen 30 Jahren hat die Führung in Moskau so sehr die verbale
Konfrontation mit dem Westen gesucht wie in den vergangenen Monaten. Putins
Ziel ist klar. Der Westen soll mit einer Drohkulisse dazu angehalten werden,
die Einflusssphären Russlands – so wie sie der Kreml versteht – zu
respektieren. Allen voran soll der Ukraine der Weg in die Nato versperrt
bleiben. Weniger klar ist jedoch, warum Putin mit dieser Dringlichkeit gerade jetzt an
die Sache herangeht.

Russland läuft Zeit davon

Einer der Gründe für die Eile liegt bei Russlands westlichem
Nachbarn Ukraine. Nach der Krim-Annexion
2014 hat der Kreml lange auf eine günstige Gelegenheit gewartet, um wieder mehr
innenpolitischen Einfluss in der Ukraine zu gewinnen. Ein Pfeiler dieser
Strategie war das umstrittene und für Russland vorteilhafte Minsk-Abkommen. Würde es umgesetzt, würde die teils besetzte Ostukraine zwar in Kiews Obhut
zurückkehren. Als Region unter russischem Einfluss und mit Sonderrechten
ausgestattet, könnte Russland aber die
Innenpolitik und vor allem die Außenpolitik in der Ukraine mitbestimmen. Eine
weitere ukrainische Westbindung wäre damit blockiert. Dies ist auch einer der Gründe,
warum sich Russland die bislang nicht anerkannten Pseudorepubliken von Donezk
und Luhansk im Osten der Ukraine noch nicht einverleibt hat.

Zuletzt aber wurde immer deutlicher, dass dieser Plan nicht aufgeht.
„Für Russland läuft in der Ukraine die Zeit davon“, sagt Alexej Makarkin,
Politikwissenschaftler der Moskauer Higher School of Economics. Lange Zeit sei
der Kreml davon überzeugt gewesen, dass das Volk der Ukraine früher oder später
wieder eine prorussische Regierung wählen würde. „Jetzt sieht man, dass sich
selbst die russischsprachigen Wähler im Osten der Ukraine von den
moskaufreundlichen politischen Kräften
im Land abwenden“, erklärt Makarkin.

Zugleich hat auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij die
Minsk-Vereinbarungen als nicht umsetzbar bezeichnet, die Modernisierung seiner
Armee vorangetrieben und neue Waffen wie Kampfdrohnen und Panzerabwehrraketen
beschafft. Innenpolitisch erhöht die Regierung in Kiew den Druck auf potenzielle Verbündete
Moskaus im Inneren. Gleich mehrere russischsprachige TV-Sender haben als
Sprachrohre der moskaufreundlichen Opposition im vergangenen Jahr ihre Lizenz
verloren. Der ukrainische Oligarch und Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk, der
die Sender finanzierte, sitzt seit Monaten in Hausarrest wegen Vorwürfen
des Landesverrats.

„Der Kreml sieht, dass die Ukraine kontinuierlich Richtung Westen
abdriftet und befürchtet, dass es bald für die russischen Pläne zu spät sein
könnte“, erklärt Makarkin. Mit seiner Drohkulisse wolle Russland zumindest
verhindern, dass dieser Westdrift weiter zementiert wird.

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