Von 2008 bis 2010 war Arvid Bell ehrenamtliches Mitglied im Parteirat der Grünen und machte sich im linken Flügel der Partei einen Namen, unter anderem als Gegner von Rüstungsexporten und Militäreinsätzen. Mittlerweile ist er Lehrbeauftragter an der Harvard Universität und Direktor der „Negotiation Task Force“ am dortigen Davis Center for Russian and Eurasian Studies, wo er die Rolle von Verhandlungsstrategien in der Deeskalation von Konflikten erforscht. Hierzu hat er Krisengebiete in Osteuropa, Zentralasien, und dem Nahen Osten bereist, und Nato-Einsatzkräfte und Parlamente beraten. Wie blickt der 37-Jährige auf den westlichen Umgang mit dem russischen Angriffskrieg und das Verhalten seiner alten Partei? 

ZEIT ONLINE: Herr Bell, Sie sind gerade auf dem Weg zu einer Basis der US-Armee in Mississippi. Was machen Sie da? 

Arvid Bell: Ich halte dort einen Vortrag vor Spezialkräften der Navy, wie man besser verhandelt. Wir reden über Interessenausgleich in Verhandlungen, wie man internationale Allianzen effektiver gestalten kann und darüber, wie man der Gegenseite besser zuhört. 

ZEIT ONLINE: Sie waren früher mal ein linker, antimilitaristischer Grüner. Heute trainieren Sie also unter anderem Militärs. Wie verträgt sich das? 

Bell: Das hat sich durch meinen Beruf und meine Erfahrung in den USA geändert. Ich habe Vorurteile abgelegt. Vor vielen Soldaten, mit denen ich hier zu tun habe, vor allem Offiziere und Spezialkräfte, habe ich großen Respekt. Die sind klug und gut ausgebildet. Das sind die Letzten, die in den Krieg ziehen wollen und die Ersten, die dir sagen, wie schlimm militärische Gewalt wirklich ist. Eben weil sie das selbst erlebt haben. Ich habe für mich jetzt die Linie dort gezogen: Ich helfe niemandem, effizienter zu töten. Aber ich helfe, Konflikte verbal effektiver zu managen. Deeskalation statt Eskalation. Verhandeln statt Gewalt. Wie man das am besten macht, darüber rede ich mit Journalistinnen in Afghanistan genauso wie eben mit den Soldaten auf diesem Marine-Stützpunkt. 

ZEIT ONLINE: Man kann den Eindruck haben, dass nicht nur Sie, sondern auch Ihre alten Parteifreunde längst von ihrem Antimilitarismus abgekommen sind. Die Grünen sind im Ukraine-Krieg am deutlichsten für Waffenlieferungen. Wie nehmen Sie die deutsche Debatte aus der Ferne wahr? 

Bell: Mich irritiert die starke moralische Aufladung, die nicht nur, aber vor allem von den Grünen betrieben wird. Das sehe ich so im Vergleich in anderen Ländern nicht. In Deutschland stehen emotionale Bilder und Geschichten sehr im Vordergrund: Die Kinder, die vor den Bomben in die U-Bahn-Stationen fliehen, die Toten in Butscha mit den auf den Rücken gebundenen Händen – das ist alles schrecklich. Und gerade die Grüne wertebasierte Außenpolitik muss sich darüber auch empören und moralisch sein. Aber sie paart sich jetzt auf ungesunde Art mit einer neuen Bereitschaft zur Militarisierung. Diese Mischung scheint mir nicht ohne Risiko und Nebenwirkungen. 

ZEIT ONLINE: Warum? 

Bell: Es gibt jetzt den Wunsch, sich mit den aufrechten Ukrainern zu identifizieren und mit ihnen zusammen die Horden der Finsternis zu besiegen. Die Ukraine hat das Recht, sich gegen einen illegalen Angriffskrieg zu wehren. Aber gerade in Deutschland, aber auch im gesamten Westen, ist man geschichtlich und moralisch nicht dazu legitimiert, sich als weißer Ritter aufzuspielen. Wenn man zurückschaut, auch in die Geschichte der Grünen: Warum waren Leute wie Petra Kelly (Mitgründerin der Grünen, Anm. d. Red.) so überzeugend? Weil sie ihr wertebasiertes Handeln mit Gewaltfreiheit verbunden haben, und gerade eben nicht mit Militanz. Ich persönlich bin gar nicht kategorisch gegen Militär und Auslandseinsätze. Aber mich beunruhigt, dass die neue Bereitschaft zu militärischer Gewalt nicht eingehegt wird von den Überlegungen des internationalen Rechts, sondern von Fragen der Moral und der Gesinnung. Denn über Moral wird sich nie ein universeller Konsens herstellen lassen; moralische Fragen können in der Welt immer unterschiedlich ausgelegt werden. So wird man also nicht zu einer weltweiten Antwort darauf finden, wie mit diesem Krieg und Kriegen generell umzugehen ist. 

ZEIT ONLINE: Aber die Einstufung dessen, was beispielsweise russische Soldaten in Butscha anrichten, ist doch keine Frage der Moral oder der Gesinnung. 

Bell: Nein. Aber haben Sie die Ukraine-Debatten in der UN-Generalversammlung und im UN-Sicherheitsrat verfolgt? Das war sehr aufschlussreich. Manche westliche Außenminister sind dort sehr empört und moralisch aufgetreten, haben über sterbende Kinder gesprochen, über Bombenhagel und so weiter. Das kommt nun mal in vielen Teilen der Welt schlecht an, wo teilweise über Jahrzehnte westliche Bomben gefallen sind und Kinder getötet haben. Die USA haben den Irak 20 Jahre bombardiert. 

ZEIT ONLINE: Das macht ja den russischen Angriffskrieg nicht weniger schlimm. 

Bell: In der Tat, aber darum geht es auch nicht. Der Punkt ist: Man wird weltweit keinen Konsens gegen den russischen Angriffskrieg organisieren können, wenn man das zu sehr moralisch auflädt. Zu viele Länder in der Welt wissen genau, wie brutal westlicher Imperialismus und Kolonialismus war. Ich komme gerade aus Vietnam, da haben die USA Hunderttausende Menschen umgebracht, Folter unterstützt, und Agent Orange gesprüht. Ich habe dort einen Studenten getroffen, der hat eine Ukraine-Flagge in sein Instagram-Profilbild gepackt, einfach weil er fand, dass es nicht in Ordnung ist, ein anderes, kleineres Land zu überfallen. Aber die Generation seiner Eltern ist von den Amerikanern bombardiert worden. Die Vietnamesen haben so viel westlichen Terror erlebt, und nicht nur die, diesem Studenten können wir doch jetzt nicht mit moralischer Empörung und Überheblichkeit kommen. Wenn man die ganze Zeit über getötete Kinder spricht, fragt sich ein großer Teil der Welt: Was ist mit den irakischen Kindern, die im Bombenhagel gestorben sind? Was ist mit den afghanischen Hochzeitsgesellschaften, die weggebombt wurden? Wo ist eure Empörung, wenn ihr selber die Bomben werft? 

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