Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wer sich permanent um sich selbst dreht, verliert den Überblick. Seit bald einem Jahr diskutieren wir hierzulande von morgens bis abends über Corona und unsere Befindlichkeiten in der Krise. Wir haben viel über die CDU-Herren geredet und uns über Herrn Trump echauffiert. Wir debattieren ausführlich über geschlossene Friseure, Gender-Sternchen und andere Luxusprobleme. Und während wir so vor uns hinplappern, merken wir gar nicht, wie sich die Welt in atemberaubendem Tempo verändert. Wir verlieren nicht nur die Klimakrise aus dem Blick, wir ignorieren auch den Aufstieg einer neuen Weltmacht. Dabei wird er schon bald gravierende Auswirkungen auf unser Leben haben.

Empires rise and fall – Imperien steigen auf und dann zerbrechen sie: Schon einmal habe ich dem historischen Entwicklungszyklus einen Tagesanbruch gewidmet, damals ging es um die tektonische Verschiebung zwischen der heutigen und der künftigen Supermacht. Die beschleunigt sich nun durch die Pandemie – und verändert auch Europas Stellung in der Welt schneller als zuvor. Deutschlands Wohlstand und Sicherheit werden durch Chinas rasanten Aufstieg infrage gestellt.

Wie bitte?, mögen Sie fragen, Deutschland profitiert doch vom Handel mit China! Stimmt. Noch. Aber ich möchte Ihnen zwei Erlebnisse schildern, die mich daran zweifeln lassen, dass wir uns noch lange in unserer gegenwärtigen Wohlfühloase ausruhen können:

Die erste Begegnung machte ich vor knapp drei Jahren auf einem Flug nach Peking. Bei einem Plausch auf zehntausend Metern Höhe erzählte mir der Chef eines Dax-Konzerns, wie das Geschäft mit China sein Unternehmen verändert: Früher habe seine Firma viel Geld verdient, indem sie Komponenten für Hochgeschwindigkeitszüge und Kräne nach China verkaufte. Heute bauten die Chinesen die Züge und Kräne selbst – und zwar besser. „Der einzige Vorteil, den wir noch haben, ist unser Erfindergeist“, beteuerte der Manager. „Wir sind den Chinesen mit unseren Neuentwicklungen immer zwei, drei Jahre voraus. Also kaufen sie bei uns ein. Dann kopieren sie die Technologie und brauchen uns nicht mehr. Das Problem ist, dass die Chinesen nun selbst immer innovativer werden. Unser Vorsprung schmilzt.“

Was das denn für die Zukunft bedeute, fragte ich. Seine Antwort: Es sei möglich, dass die Chinesen in Zukunft nicht nur alles Notwendige selbst produzieren, sondern auch die technischen und regulatorischen Standards vorgeben. Und dann sei es denkbar, dass sie alle Firmen, die nach anderen Regelwerken produzieren – etwa nach amerikanischen – aus dem Land werfen und den Handel mit ihnen verbieten. Es ist dieses „Decoupling“, das viele deutsche Geschäftsleute mehr fürchten als alles andere: dass sie sich zwischen dem Handel mit den USA und dem Handel mit China entscheiden müssen – entweder oder. Der Umsatzverlust wäre riesig.

Das zweite Erlebnis hatte ich beim Besuch eines Startups in der südchinesischen Wirtschaftsmetropole Shenzhen. Dort haben findige junge Leute eine App entwickelt, die Chinas Gesundheitssystem revolutionieren soll: Bürger bekommen einen kleinen Chip unter die Haut implantiert, der jede Körperfunktion misst und an die Smartphone-App sendet. Die App schickt die Informationen an einen zentralen Server, der die Daten von Millionen Menschen sammelt und auswertet. So können die Behörden auf einen Blick sehen, in welchen Regionen auffällig viele Bürger unter Bluthochdruck, Diabetes oder anderen Beschwerden leiden. Sie können die Betreffenden dann per Push-Nachricht zum richtigen Arzt schicken, die Behandlung überwachen – und jene bestrafen, die sich nicht daran halten. Ein Angestellter erklärte es mir an einem einfachen Beispiel: Meldet die App, dass jemand zu viel Alkohol trinkt, könnte man ihm die Rentenzahlung kürzen. Stolz führten uns die Entwickler ein Werbevideo vor, ich habe es hier veröffentlicht.

Was dieses Erlebnis mit uns zu tun hat? Ganz einfach: Die chinesische Regierung lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihre digitalen Überwachungssysteme keinesfalls auf ihr eigenes Territorium beschränken will. Staaten, in deren Infrastruktur sie investiert – nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in Europa – könnten bald mit besonderen Angeboten konfrontiert werden: Daten gegen Geld. Und wer nicht mitspielt, bekommt weniger Aufträge. 

In einem Startup in Shenzhen werden Algorithmen für eine Gesundheits-App programmiert. (Quelle: Florian Harms)

Zwei Erlebnisse, subjektiv, am Rande größerer Ereignisse. Es muss nicht so kommen wie befürchtet. Wenn Europa aufwacht und seine Interessen in der Welt entschlossen vertritt. Wenn Deutschland beginnt, eine Vision für die nächsten Jahrzehnte zu entwickeln, statt immer nur im Hier und Heute herumzutappen. Eine große, aber nicht unlösbare Aufgabe. Ich halte sie für so wichtig, dass wir darüber eigentlich ebenso viel reden sollten wie über Corona. Deshalb sprechen mein Kollege Marc Krüger und ich in unserem heutigen Podcast über Deutschlands brisantes Verhältnis zu China. Außerdem geht es, natürlich, doch noch mal um die jüngsten Entwicklungen in der Pandemie. Hören Sie bitte hinein:

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Wie immer am Wochenende bekommen Sie von mir einen Musiktipp. Diesmal bin ich an mein nicht ganz kleines CD-Regal getreten, habe ungefähr auf Augenhöhe eine Scheibe herausgezogen – und ein Meisterwerk mit diesem Song darauf in Händen gehalten. Errol Garners Melodien sind einzigartig, finde ich. Genau das richtige für ein beschwingtes Wochenende. Das wünsche ich Ihnen nämlich. Am Montag schreibt mein Kollege Johannes Bebermeier den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Dienstag wieder.  

Herzliche Grüße,
Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: [email protected]

Mit Material von dpa.

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