Kurz bleibt Horst Gies stehen, zeigt auf das Stadttor seiner Heimatstadt Ahrweiler. Im Frühjahr 1945, in den letzten Kriegsmonaten, seien das mittelalterliche Tor und die umliegenden Häuser von britischen Fliegern unter Beschuss genommen worden, erzählt er. „Wenn Sie die alten Leute fragen, dann sagen die: ‚So schlimm wie heute war die Altstadt damals nicht zerstört.'“

An einem Samstag, früh um 9 Uhr, führt Gies durch den Stadtkern. Er ist ein bisschen spät dran, weil er noch einen Generator für eine Mitarbeiterin organisieren musste. Leute laufen vorbei, grüßen ihn, er winkt zurück, er kennt sie fast alle persönlich. Seit fünf Monaten sei er ununterbrochen im Landkreis unterwegs, sagt er: Koordinierungstreffen mit Bürgermeistern, Zukunftsgespräche mit Bürgern. Eigentlich ist Gies Landtagsabgeordneter in Mainz, zurzeit aber ist das eher ein Nebenjob. Seit August ist er amtierender Landrat. Nun kandidiert er, um das Amt dauerhaft zu übernehmen.

Warum er sich das antut, mit 61 Jahren? „Ich hab als Kind in der Ahr schwimmen gelernt“, sagt Gies, „meine Eltern und Großeltern haben ihre Heimat nach dem Krieg wiederaufgebaut. Das ist eine Verpflichtung, und ich will, dass das Tal jetzt wieder zum Leben erweckt wird.“ Auf der anderen Straßenseite liegt ein Friedhof. „An dem Baum dort“, er zeigt hinüber, „zwischen den Gräbern, hat sich mein Sohn über Stunden festgehalten, als das Wasser stieg. Der war für die freiwillige Feuerwehr in der Flutnacht im Einsatz.“ Fast jeder hier kann solche Geschichten erzählen. Dass auch seine Schwägerin in der Nacht starb, erwähnt Gies nicht.

Hinter dem Stadttor stehen Fachwerkhäuser, Markierungen an den Wänden zeigen an, wie hoch das Wasser im letzten Sommer stand. Die Fußgängerzone ist immer noch sandig, teilweise fehlen Pflastersteine. Vor einem Lederwarengeschäft macht Gies wieder halt: Die Inhaberin sei 81, sagt er, vor Kurzem habe sie den Laden wieder eröffnet. „Das ist für mich so ein tolles Hoffnungszeichen.“

Und es braucht solche Hoffnungszeichen. 134 Menschen sind in der Flut gestorben, fast ein Drittel der 56.000 Menschen im Tal haben ihr Hab und Gut verloren. Der Fluthilfefonds ist auf 30 Jahre angelegt, noch sieht es an vielen Stellen aus wie nach einem Krieg. Bagger befestigen provisorisch gekieste Straßen, geborstene Brücken ragen in die Landschaft. Metaphern dafür, dass mehr zerbrochen ist als Holz, Beton und Stahl: Die Menschen haben ein Gefühl der Sicherheit verloren, ihr Vertrauen in „den Staat“, in „die Politik“.

In dieser Situation wird nun am kommenden Sonntag ein neuer Landrat gewählt, wie in Rheinland-Pfalz üblich direkt vom Volk und auf acht Jahre. Der Landrat ist oberster Kommunalbeamter eines Kreises, koordiniert unter anderem die Bürgermeister und Bauvorhaben auf Kreisebene und ist zugleich das Bindeglied zur Landesregierung. Wie viel von ihm abhängen kann, hat die Flut gezeigt. Im Extremfall Leben und Tod. Gegen Gies’ Vorgänger, Jürgen Pföhler, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen. Mitten in der Flutnacht verließ er den Krisenstab. Seine Anwälte sagen, eine Pflichtverletzung liege nicht vor; Pföhler habe nicht durchgehend anwesend sein müssen. Gies mag nicht schlecht über seinen CDU-Parteifreund reden. „Er war ein guter Verwaltungsjurist“, sagt er nur. Seit 2000 war Pföhler im Amt, zweimal wurde er wiedergewählt. Nun aber ist er für viele der Schuldige.

„Der Pföhler, der gehört in den Knast“, schimpft eine ältere Frau. „Ich halt von der Politik wenig bis nichts“, sagt sie, „die haben es sich mit uns verscherzt“, meint ein anderer. Es sind vier, fünf Männer und eine Frau, die vor großen DRK-Zelten im Zentrum von Marienthal sitzen, sieben Kilometer flussaufwärts von Ahrweiler. Den Morgen über haben sie in den Ruinen ihres Dorfes gearbeitet und Handwerker eingewiesen, jetzt machen sie Mittagspause. 50 Meter entfernt, hinter der Bundesstraße, rauscht die Ahr vorbei.

„Wenn der Landrat zur Evakuierung aufgerufen hätte, sagen wir’s mal so, dann hätt’s bei uns im Dorf statt fünf Toten vielleicht gar keinen gegeben“, sagt einer der Männer. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Er sei Polizist, erklärt er, er habe ein bisschen Ahnung von Organisation. „Wenn der alte Landrat im Ahrtal bei Dunkelheit rumlaufen würde, da würd der ein richtiges Problem haben“, sagt die Frau. Es ist die erste Kommunalwahl nach der Flut, die erste Wahl, in der die Menschen, deren Leben sich so brutal verändert hat, entscheiden können, wie es weitergehen soll. Und deshalb stehen nicht einfach nur Kandidaten zur Abstimmung. Es geht um mehr, um Vertrauen in den Staat, in die Demokratie. Und darum, ob sich zerstörtes Vertrauen zurückgewinnen lässt, so wie sich Brücken und Häuser wieder aufbauen lassen.

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