Seit zwei Monaten gibt Wladimir Putin sein Bestes, um die Gefahr einer bevorstehenden Invasion in der Ukraine heraufzubeschwören. Ein Experiment, sagt Russland-Experte Leon Aron – an dessen Ende das Baltikum bedroht sein könnte. 

Was hat Wladimir Putin mit der Ukraine vor? Diese Frage beschäftigt die USA, die Nato und Europa seit zwei Monaten – seit Russland an seiner westlichen Grenze Truppen zusammenzieht und seine Armee großangelegte Manöver durchführen lässt. Die Angst vor einer Invasion geht um. Notfallpläne werden ausgearbeitet. Der Russland-Experte Leon Aron schließt eine Invasion jedoch aus, aus mehreren guten Gründen. Der Leiter der russischen Forschungsabteilung am American Enterprise Institute in Washington, D.C. beobachtet seit Jahrzehnten Putin und sein außenpolitisches Taktieren. Für ihn liegt auf der Hand: Hier läuft eine Operation, die das sogenannte Problem 24 lösen soll. Ein Gespräch über Putins Spiel mit dem Krieg, seine Ziele und die Fehler des Westens. 

stern: Herr Dr. Aron, der Ukraine-Konflikt hält die Welt in Atem. Der Westen versucht mit der Androhung verschiedener Sanktionen Putin von einem Einmarsch abzuhalten. Aber wie hoch schätzen Sie das Risiko einer russischen Invasion in die Ukraine ein?

Leon Aron: Ich habe diese Möglichkeit von Anfang ausgeschlossen. Ich erkläre auch warum: Die ukrainische Armee zu zerbomben, wäre für Putin einfach. Diese erste Etappe würde ihm einen Sieg bescheren. Aber was dann? Man müsste dieses Territorium besetzten und halten. Und hier kommt das Problem: Zum einen ist die ukrainische Armee heute viel besser bewaffnet und ausgebildet als noch etwa 2014. Zum anderen haben die Ukrainer in der Vergangenheit bewiesen, was für unnachgiebige Partisanen sie sein können, wenn sie müssen – sei es nach der Revolution 1917 oder während des Zweiten Weltkriegs.

Nach der ersten Etappe würde dies also Opfer bedeuten. Die russischen Soldaten kehren dann in Särgen nach Hause zurück. Die Russen lieben es, wenn Putin schnell und elegant Siege erringt, wie etwa im Fall der Krim oder auch in Syrien. Aber wenn seine Siege von großen Opfern begleitet werden, wird die russische Gesellschaft das nicht akzeptieren.

Das wird sich Putin, vor allem im Blick auf seine Wiederwahl 2024 nicht selbst einbrocken. Deswegen habe ich vor zwei Monaten schon gesagt: Eine Invasion wird es nicht geben.

Wenn eine Invasion für Putin keine Option ist, welche Ziele verfolgt er dann mit seinem Aufmarsch und den Manövern?

Dieses Drama an der ukrainischen Grenze hat mehrere Adressaten. Zum einen erpresst Putin die Nato und die USA. Er will erreichen, dass sie Druck auf die Ukraine ausüben, damit Kiew die Bedingungen des Abkommens Minsk 2 umsetzt. Damit würde aber die Ukraine ihre territoriale Souveränität einbüßen. Wenn Kiew die Integration des Donbass zulässt, was dieses Abkommen vorsieht, entsteht auf ukrainischem Territorium ein russisches Protektorat. Seine Vertreter würden in die ukrainische Rada einziehen. Für Kiew würde dies eine stets schwärende Wunde bedeuten.Bio

Und zum anderen?

Der Hauptadressat Putins ist sein heimisches Auditorium. Im Kreml ist jetzt alles, die Außenpolitik inbegriffen, darauf ausgerichtet, das sogenannte Problem 24 zu lösen. Damit ist die Wiederwahl Putins gemeint, die ihn zum Präsidenten auf Lebenszeit machen wird – ganz gemäß der von ihm geänderten Verfassung. Wird Putin 2024 wieder zum Präsidenten, kann er bis ins Jahr 2036 seelenruhig im Amt bleiben. Dann wird er 84 Jahre alt sein.

Und daran, dass er wiedergewählt wird, besteht kein Zweifel. Zur Not durch Falsifikationen. Der Kreml steht nur noch vor der Frage, wie sich ernsthafte Unruhen vermeiden lassen werden.

Die russische Öffentlichkeit ist gespalten. Nach der neuesten Umfrage des Levada-Zentrums [eines unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Moskau, Anm. d. Red.] wollen 42 Prozent der Russen Putin nach 2024 nicht mehr im Amt sehen. Und diese Spaltung wird sich noch zuspitzen. Die russische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Und die ökonomische Situation wird sich noch weiter verschlechtern. Um dies abzuwenden, wären gravierende strukturelle Reformen notwendig. Doch dazu ist Putin nicht bereit. Was kann er also tun?

Zum Klassiker seiner politischen Mittel greifen und einen Feind heraufbeschwören.

Ganz genau. Die Ukraine wird der russischen Bevölkerung als der Aggressor verkauft. Putin verteidigt Russland, während die Ukraine, angespornt von den USA und dem Westen, der Angreifer ist. Das ist das Narrativ der Kreml-Propaganda. Das ist ein weiterer Grund, warum für Putin eine Invasion keinen Vorteil bedeuten würde. Sollte er in die Ukraine einmarschieren, würde das die gesamte Legende auf den Kopf stellen.

Während seines letzten großen TV-Auftritts, der sogenannten „direkten Linie“, gab es einen sehr interessanten Moment: Putin erklärte sehr emotional, dass russische Soldaten niemals auf ukrainische Soldaten schießen werden. Natürlich kann er sein Wort brechen. Das wäre nicht das erste Mal. Aber wenn er wirklich eine Invasion in Betracht ziehen würde, wäre diese Frage schlicht nicht gestellt worden.

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Putin bleibt also ein Opportunist, der nur handelt, wenn ihm der schnelle Sieg gewiss ist?

Putin befindet sich jetzt in einer entscheidenden Phase. In zwei Jahren steht die Präsidentschaftswahl an. Er wird sich sein Leben nicht selbst durch eine Invasion schwer machen. Er wird nichts riskieren, was seine Beliebtheit schmälern könnte. Daher sage ich: Ja.

Die Forderungen, die Putin an die Nato stellt, galten von vornherein als abstrus und nicht erfüllbar. Wie steht denn der Kreml-Chef da, wenn er mit leeren Händen zum Rückzug blasen muss? Hat er sich in eine Lage manövriert, aus der er nicht mehr herauskommt?

Putin kann immer sagen: Die Nato wollte Russland mittels der Ukraine angreifen. Ich habe aber ihnen solch einen Schrecken eingejagt, dass ich all ihre Pläne zunichte gemacht habe. Diese Version kann er seinem heimischen Publikum immer verkaufen und das Gesicht wahren.

Wenn die Verlegung von Truppen an die Grenze der Ukraine vom Kreml inszeniert wurde, um daraus Vorteile für sich selbst zu ziehen, dann scheinen das Weiße Haus und die Nato auf diesen Trick hereingefallen zu sein. Wenn Putin die ganze Situation heraufbeschworen hat, um seine Position im Inneren zu festigen, ist dann nicht jedes Entgegenkommen der Nato oder USA ein Fehler?

Im Moment sind die Fronten so verhärtet, dass die Nato wahrscheinlich nicht um kleine Zugeständnisse umhinkommt, etwa in Bezug auf die Positionierung von Mittelstreckenraketen. Ich bin aber überzeugt, dass die Reaktion auf die Truppenbewegungen und Manöver gleich am Anfang ganz anders hätte ausfallen müssen. Es hätte gereicht, auf der Ebene des Pentagons oder des Außenministeriums, eine Erklärung abzugeben: Wir beobachten die Situation, aber es ist das Recht des Kremls auf russischen Territorium Manöver abzuhalten. Das hätte Putin jeden Wind aus den Segeln genommen. Doch stattdessen hat man Putin genau das gegeben, was er wollte: Anrufe aus dem Weißen Haus, Dringlichkeitssitzungen, eine Sitzung des NATO-Russland-Rates und so weiter.

Jedes Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten – ob virtuell, telefonisch oder noch besser persönlich – ist ein kolossaler innenpolitischer Gewinn für jeden russischen Führer: Das ist schon seit Stalin so. Für Russland ist nur ein einziges Land von Bedeutung: Und das sind die USA.

Allein in seinem ersten Amtsjahr hat nun Joe Biden an sieben oder acht Gesprächsrunden mit Putin teilgenommen. Das ist in der Geschichte beispiellos. Ein absoluter Rekord und ein großer Fehler. Die USA hätten gleich anders reagieren müssen. Aber nun ist alles so weit fortgeschritten, dass man Vereinbarungen wird treffen müssen.

Das wird nicht die Zusage sein, die Ukraine niemals in die Nato aufzunehmen, aber vielleicht wird man sich in Bezug auf Militärbasen und Raketenstationierungen einigen können.

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Das Mantra der Bedrohung durch die Nato wird mit solch einer Intensität forciert, dass man sich die Frage stellt, ob Putin mittlerweile wirklich glaubt, es bestehe ein Risiko eines Angriffs auf Russland. Fällt der Kreml seiner eigenen Propaganda zum Opfer?

Wenn man 15 Jahre lang etwas wiederholt, glaubt man es irgendwann selbst. Und wenn man erst einmal etwas glaubt, biegt man alle Fakten dieser Überzeugung entsprechend zu Recht. Ich habe nun alles gelesen, was Putin und seine Gefolgsleute publik jemals gesagt haben. Und ich fange an, zu glauben, dass Putin und sein Kreis die Gefahr eines Nato-Angriff wirklich für real halten.

Geht denn der Impuls von Putin selbst aus? Oder ist es sein Umkreis, der ihn in diese Richtung drängt?

Ich denke, sowohl als auch. Sehen Sie sich die Männer in seinem Kreis an. Sie gehören alle der KGB-Generation der 70er-Jahre an. Für sie sind die USA seit jeher der Feind. Diese Ideologie begleitete sie durch ihre Jugend. Auf dieser Basis haben sie ihre Karriere gemacht. Sie können dieses Denken nicht ablegen. Außerdem ist es eine bewährte Methode: Mit dem Heraufbeschwören der Bedrohung durch die Nato hält man die eigene Bevölkerung ständig auf Trab. Und kann sich selbst als Beschützer profilieren.

Wladimir Putin trägt die Uniform eines Marineoffiziers, als er am 6. April 2000 von dem atomgetriebenen U-Boot „Karelija“ aus ein Manöver der Nordmeerflotte Russlands in der Barents-See beobachtet. Schon damals begann er mit der Demonstration russischer Militärmacht, um seine eigen Position zu festigen.
© epa Itar-Tass Pool

Innenpolitisch nützt die Zuspitzung des Konfliktes also Putin nur. Aber was ist mit der Außenpolitik? Spätestens wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden und die russischen Truppen wieder von der Grenze abgezogen werden, wissen alle, dass es eine erneute Finte war. Was nützt ihm das?

Ich denke, das Ganze ist für Putin ein Testlauf. Er hält die Nato für einen Papiertiger. Jetzt sitzt er in der Ecke und beobachtet das Gewusel, das er ausgelöst hat. Putin veranstaltet ein Experiment. Und was passiert? Er sieht, wie die USA verzweifelt versuchen, die Nato zu einen und zu einer gemeinsamen Reaktion zu bringen. Ohne großen Erfolg. Dies bestätigt ihn nur in seiner Meinung, dass er mit jedem Spielchen davonkommt. Für ihn ist das das Signal, dass er auch in Zukunft mit allerlei Provokationen fortfahren kann. Er glaubt nicht daran, dass die Nato wirklich gefährliche Sanktionen verhängen wird. Und er glaubt auch nicht daran, dass die Nato wirklich gegen ihn militärisch vorgehen wird.

Die Unentschlossenheit der Nato ist für Putin also ein Freibrief?

Putin hat jetzt wieder einmal gesehen, dass er nichts zu befürchten hat. Die USA haben zudem gleich zu Beginn einen strategischen Fehler begangen, als sie verkündet hatten, man werde weder Russland vom Swift-Abkommen ausschließen noch ein Import-Embargo für russisches Öl und Gas verhängen. Dies wären die einzigen beiden Sanktionsmöglichkeiten gewesen, die den Kreml wirklich hart treffen würden. Und ausgerechnet diese schließt man gleich aus.

Und dann verkündet auch noch Biden, die Nato werde der Ukraine nicht militärisch beistehen. Ganz zu schweigen von dieser merkwürdigen Äußerung, dass Sanktionen der Nato vom Ausmaß eines potenziellen russischen Einmarschs abhängen würden.

Dieses Theater, dass er für sein heimatliches Publikum jetzt auf die Bühne bringt, wird sich noch wiederholen. Das Erschreckende ist für mich nicht der aktuelle Konflikt, sondern dass Putin noch zwei Jahre bleiben, in denen er alles auf die Spitze treiben kann.

Die Ergebnisse dieses Testlaufs erlauben Putin also, vor der Präsidentschaftswahl ähnliche Operationen durchzuführen?

Und das nicht nur einmal! Meine größte Befürchtung, dass Putin eine Blitzaktion in einem der Länder des Baltikums anstreben könnte. Dafür könnte er eine Reihe emotionaler Beweggründe anführen. Dort gibt es russische Minderheiten, zu deren Retter, Putin sich aufschwingen kann. Technisch wäre dort ein Einmarsch schnell und einfach durchzuführen. Keine komplette Invasion von Estland oder Lettland, nein. Aber einen kleinen Teil könnte er abspalten und nach dem Beispiel des falsifizierten Krim-Referendums in die Russische Föderation eingliedern. Ich will natürlich hoffen, dass ich mich täusche. Aber angesichts dessen, was er jetzt seitens der Nato gesehen hat, muss Putin denken, dass dies eine Option ist, die ihm nicht teuer zu stehen kommen würde. Diese Polit-Spielchen wird er noch bis Jahr 2024 treiben.

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